Sieben Jahre in Osttibet

Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell die Jahre vergehen. Erlebnisse, gerade noch frisch, beginnen zu verblassen, gleichen immer mehr den verwaschenen Gebetsfahnen, die vor sieben Jahren über uns im Jinsha Tal geflattert haben. Überzeugt waren wir, dass diese durchscheinenden Gewebe vom Wind verschont bleiben, dass sie allen Wettern standhalten würden. So wie unsere Erinnerungen. Doch die Gebetsfahnen gibt es nicht mehr. Die Chinesen haben sie ersetzt durch neue, knallige Stoffschnüre. Die Strasse wurde ausgebaut und asphaltiert. Nichts hält im Regen der Zeit. Nichts bleibt, wie es ist. Nichts?

Ein druckfrisches Visa klebt in unserem Pass: China - zum vierten Mal. Mehr als sechs Monate haben wir im Lauf der letzten sieben Jahre bereits im Reich der Mitte verbracht. Und fast jedes Mal sind wir am Ende unseres Aufenthalts völlig genervt ausgereist und haben uns geschworen; "Das wars jetzt, nie wieder, wir sind fertig mit China." Ja, das Reisen in China ohne Sprachkenntnisse ist fordernd. Und doch halten wir jetzt erneut ein Visa in den Händen und die Vorfreude ist riesig.

Ein fünftes Mal China also, zum zweiten Mal Osttibet. Langweilig? Nein, denn die Vorzeichen stehen dieses Mal ganz anders. Wie die Chinesen haben wir dazugelernt, ist die Zeit bei uns nicht stillgestanden. Anstelle eines schwerbepackten Tourenrads haben wir ein leichtes Mountainbike und statt veralteter und ungenauer Papierkarten Zugriff auf Satellitenbilder und moderne GPS Technologie. Wir spulen durch Thailand, Laos und Yunnan im Schnelldurchlauf. Hitze, dampfender Dschungel, grün in grün. Doch gedanklich sind wir bereits ganz woanders. Wir sehen verschneite Himalayariesen, bunte Gebetsfahnen und winkende Motorradfahrer vor unseren Augen. Innert weniger Tage wechselt das thailändische "Sawadee kha" zum laotischen "Sabaidii" und schliesslich zum chinesischen "Nihao". Wir lieben diese Kulturwechsel, wir lieben es mitzuerleben, wie ein Land dem anderen Platz macht. Aus diesem Grund nehmen wir auch mal landschaftliche Durststrecken in Kauf, radeln wir auf Highways Kilometer ab. Und wahrscheinlich ist dies auch der Grund, warum wir nun erneut auf dem Weg nach Osttibet sind. Wir wollen erleben, wie sich die Welt um uns verändert. Wollen sehen, was aus den alten Gebetsfahnen geworden ist. Aus den Orten, den Menschen.

Wir starten früh, um mit dem Tagesprogramm spätestens um zwei Uhr fertig zu sein und die Nachmittage dann für die Routenplanung nutzen zu können. Wir wissen, die Chinesen leben schnell. Schotterpisten werden von Teerstrassen abgelöst sein. Wo früher Dörfer waren, wird es Städte geben. Wir ziehen alle Register unsere Trickkiste, legen unser Know How in die Planung einer Bikepacking Strecke, welche uns durch das Herz Osttibets führen soll. Quer durch die Chola Mountains. Und so erblickt der "Yak Track" das Licht der Welt.

Obwohl das heutige "Shangri La", eine Stadt, welche die Chinesen zu Marketingzwecken vor einigen Jahren umbenannt haben, nicht viel mit dem paradiesischen Ort aus Hiltons Geschichten zu tun hat, küren wir es zum Startpunkt unseres Bikepacking Abenteuers. Nachdem auch Jerry aus Colorado wieder zu uns gestossen ist, fällt der Startschuss und bereits auf den ersten Kilometern wechselt das Hallo erneut: "Tashi Delek!" Endlich sind wir dort, wo wir seit Wochen sein wollen. Am Rand des Dachs der Welt. Sozusagen in seiner Dachtrauffe. Und dementsprechend begrüsst uns auch das Wetter.

Regen und Schnee ziehen über die Berge, obwohl eigentlich Frühling auf dem Programm stehen sollte. Wind und Wetter, Kälte - Sonnenschein. Ein erster Pass, Gebetsfahnen knattern. Sieben Jahre Osttibet. Sieben Jahre Erinnerungen. Eigentlich sollte alles anders sein. Doch als wir da hoch oben auf der Bergkuppe stehen, hinunterschauen in die Schlucht, sehen, wie sich die tibetischen Holzhäuser in die Talsohle schmiegen, wie die Wolkenschatten über die Felder jagen, kommt es uns vor, als sei es gestern gewesen. Als sei keine Zeit vergangen. Doch das Gefühl trügt. Die Pässe in Osttibet sind zwar hoch, doch der chinesische Beton beginnt darüber hinwegzukriechen. Erdpisten werden zu schmalen Betonbändern. Und die Häuser bekommen ein "modernes" Fundament. Chinesische Fahnen wehen auf den Giebeln. Sind wir zu spät gekommen?

Der YakTrack führt uns tief hinein in die Berge Osttibets. Dorthin, wo kein Beton mehr fliesst, wo keine chinesischen Fahnen mehr flattern. Hinauf auf Hochebenen, wo es keine Strassen mehr gibt. Zu Menschen, die weder Monate noch Jahre zählen, und an denen höchstens das Wetter Spuren hinterlässt. Gesichter, vom Leben gezeichnet, wie damals die verwitterten Gebetsfahnen im Jinsha Tal. Die Gebetsfahnen im Jinsha Tal - hier wehen sie noch.

Wir erreichen Yachen Gar. Einer der grössten Pilgerorte der Welt. Vor sieben Jahren habe wir ihn per Zufall für uns entdeckt. Einer der wenigen Orte, an denen Mönche und Nonnen, Pilgerinnen und Pilger gemeinsam den Buddhismus praktizieren können. Doch nichts bleibt, wie es ist. Der Fluss, welcher früher die slumartigen Hütten in der Hochebene eingefasst hat, ist nun kanalisiert. Eine strikte Trennlinie zwischen Nonnen- und Mönchswohngebiet. Bürgersteig, Strassenlampen, neue Gebäude. Die Kora wurde ausbetoniert. Doch nichts desto trotz wandern die Menschen weiter ihre Runden. Für sie spielt es keine Rolle, ob unter ihren Füssen Beton oder Kieselsteine liegen. Sie sind es, welche diesen Ort lebendig halten, ihn zu einem Ort machen, an dem Vergangenheit und Gegenwart erneut kollidieren, verschmelzen, aufleben.

Nach Yachen folgen wir weiter aufgegebenen Strassen, Motorradspuren und Fusspfaden. Wir sind die Yaks auf dem Yak Track. Schiebepassagen wechseln ab mit flowigen Singletrails, Pässe mit Tälern, Schneestürme mit warmen Frühlingstagen. Motorradfahrer, die wir nach dem Weg fragen, weisen uns hartnäckig in Richtung Jinsha Tal, zum neuen Highway. Doch da wollen wir nicht hin. Wir können nicht loslassen von diesen wilden Landschaften, den Gebetsfahnen, welche von Wind und Wetter in Stücke gerissen wurden. Langsam nähen wir unsere Erinnerungsfetzen wieder mit neuen Geschichten zusammen.

In Dege lassen wir die Chola Mountains hinter uns und radeln hinaus auf das tibetische Plateau. Der Wind weht uns Richtung Norden. Es ist erstaunlich. Je länger wir unterwegs sind, desto mehr zieht es uns an Orte, die wir schon kennen. An Orte, die wir lieben und die wir erneut erfahren wollen. Wir wollen verblasste Farben nicht durch neue, knallige ersetzen, aber wir möchten sie auffrischen. Ein Lachen in der Sonne. Ein Gruss in der Einsamkeit. Ein gelebtes Abenteuer. Erlebnisse, wasserfest für die Zeit.

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