Osttibet

Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell Begegnungen vergehen. Der Wind traegt sie fort, die Sonne bleicht sie aus, wie ein Tuch, das zu lange dem Wetter ausgesetzt war. Zurueck bleibt ein durchscheinendes Gewebe aus Stimmen und Gesichtern. Ein Spinnennetz aus Geschichten und Bekanntschaften. Es ueberdauert die Zeit.
Im Jinsha Tal wehen Gebetsfahnen. Sie haben ihre Farbe verloren, die Sprueche darauf sind verblasst. Wehende Schleier, die keinen Schatten mehr werfen. Wenn man durch sie hindurchblickt, kann man die Wolken ziehen sehen. Der Wind spielt damit. Kein spektakulaeres Knattern, kein Reissen an den Schnueren wie auf den hohen Paessen davor. Feine Wellen, ein leichtes Blaehen, fein und widerstandslos. Waerme und Kaelte, Sonne und Regen koennen ihnen nichts mehr anhaben. Obwohl beinahe aufgeloest, werden diese Gebetsfahnen alle anderen ueberdauern.

Die Schlucht wird immer enger. An den Felswaenden sind Buddhas aufgemalt, kunstvoll, ueppig. Warum sind sie hier? Sie schauen ins Wasser, es ist laut und wild, wirft Blasen, die in den Strudeln zerplatzen. Langsam radeln wir hoeher, das enge Tal weitet sich, das wilde Wasser wird still. Ein Choerten steht am Ende der Schlucht. Ein buddhistisches Weltsymbol, ein Erinnerungsbau, der jeden Ort sofort mit einer besonderen Ausstrahlung umgibt. Der Glaube der Tibeter, die Philosophie des Buddhismus ist in diesem Bauwerk ausgedrückt. Wie ein Waechter steht er da, am Anfang des Wildbachs, der hier oben noch ruhig und unschuldig seinen Weg sucht, ein Stueck weiter unten aber dann rastlos durch die Felsen schiesst und sich am Ende, in seiner Ungeduld ans Ziel zu kommen, in sich selbst verheddert. Vielleicht haben darum Buddhas und Choerten in diesem Tal ihren Platz gefunden. Sie mahnen den Durchreisenden daran, sich in Ruhe und Geduld zu ueben.

Der Ort ist wie geschaffen fuer die tibetischen Steinschnitzer. Wir treffen sie zuefaellig, gleich nach dem Choerten. Eigentlich wollten wir nur kurz in dem kleinen Laden einkaufen und uns dann ein paar Kilometer weiter zum Zelten in die Buesche schlagen. Doch an der filigran gearbeiteten Steintafel neben dem Ladenfenster bleibt man unweigerlich haengen. Feine Schriftzuege, Mantraverse und wiederum ein Buddha. Wer kann ein solch filigranes Bild in den sproeden Schiefer meisseln? Der Ladenbesitzer hat unseren Blick bemerkt. Er kommt aus dem Haus, zeigt auf die Steintafel und auf sich. Wir sollen ihm folgen. Zweifellos ist er der Meister, der das Kunstwerk erschaffen hat. Er fuehrt uns hinters Haus. Hier stehen haufenweise unfertige Steintafeln, und etwas weiter hinten arbeiten noch andere an den dicken grauen Platten. Es sind Manisteine, die hier entstehen. An besonderen Orten werden sie aufgestellt, zu meterlangen Mauern aufgeschichtet. Im Himalaya beten nicht nur die Menschen, sondern auch die Steine. Sie helfen den Tibetern gute Gedanken und Wuensche zu verbreiten. Wir werden herumgefuehrt, schauen, staunen, bewundern. Am Ende trinken wir in einer der einfachen Huetten Buttertee und essen geroestetes Gerstenmehl. Zampa, das Hauptnahrungsmittel der Tibeter. An der Wand haengt ein Bild des Dalai Lama.

us dem Tal radeln wir hoch zum naechsten Pass. Tausend Hoehenmeter. Wie viele Paesse haben wir in den letzten Wochen erklommen? Wie oft sind wir wieder tief ins Tal hinunter gerauscht? Die Leute, denen wir begegnen, warnen uns vor dem Schnee, der in der Nacht gefallen sei. Ein Jeepfahrer haelt an, ringt die Haende und will uns zur Umkehr bewegen. Hat es denn wirklich so viel geschneit da oben? Wir setzen uns hin, essen Erdnuesse. Nicht weit neben uns liegt ein Kloster. Ein Moench auf einer Honda haelt an, laedt uns ein mitzukommen. Eine kleine Zelle mit herrlichem Ausblick ueber das ganze Tal. Es herrscht ein ziemliches Durcheinander im Zimmer. Ungewaschenes Geschirr, Raeucherstaebchen, eine Gebetsmuehle. Der Moench wohnt mit drei anderen hier. Maennerhaushalt. Sie sind Mediziner im Klosterspital. Auch hier ist von viel Schnee die Rede. Der Berg sei boese, wir sollen einen Tag warten, morgen sei es auf dem Pass besser. Das Essen hat geschmeckt, die Gesellschaft der Moenche ist spannend. Viel Ueberredungskunst braucht es nicht.

Am Nachmittag schauen wir bei der Medizinherstellung zu. Zwei Moenche drehen kleine Kuegelchen aus einer fettigen, schwarzen Masse. Unsere Unterhaltung ist lustig, Zeichensprache und Zeichnungen. Wir verstehen uns gut, lernen unsere ersten tibetischen Woerter. Am Nachmittag erhalten wir sogar Zutritt ins eigentliche Kloster, Gemaelde von Schutzdaemonen schmuecken die Waende. Irgendetwas wurde fuer unsere Augen mit einem schwarzen Tuch verhuellt. Der Tag geht schnell vorbei, die Sonne hat den Schnee auf den umliegenden Bergen fast vollstaendig geschmolzen. Am naechsten Tag werden wir ueber den Pass fahren. Wir verkriechen uns in einer der Zellen. Es sieht fast so aus, als haetten die Moenche vorher hier gehaust und als der Unrat zu viel wurde in die naechste Bude gewechselt. In der Nacht quitschen Ratten. Wir schmeissen ab und zu ein paar alte Klamotten in Richtung unserer Packtaschen.

Jachi. Irgendwass stimmt nicht mit dem Ort. Die Moenche haben uns davon erzaehlt. Auch in Jachi habe es ein Kloster. Aber da wuerden Frauen leben. Wir haben gelacht.
Als wir dann nach Tagen in dem Dorf ankommen, haben auch wir das Gefuehl, es sei etwas komisch. Zelte und Huetten ueberall. Die ganzen Huegel sind voll davon. Lotterige Gebilde, kein festes Haus und Tausende von Menschen. Fast alles sind Frauen. Rotgewandet. Pilgerinnen und Nonnen aus ganz Osttibet. Bhikkuni, Anhaenger des buddhistischen Frauenordens.
Bhikkuni hat es seit der Begruendung des Buddhismus gegeben. Allerdings wurden die Frauen durch acht Regeln, die ihnen der Buddha auferlegt hatte, seit jeher einer Diskriminierung unterworfen. Bis ins zwanzigste Jahrhundert wurde der Frauenorden in Tibet kaum praktiziert. Der 14. Dalai Lama hat
aber versucht, buddhistische Nonnen in Tibet zu staerken. Und wir sind per Zufall an ein solches Frauenkloster herangefahren. Wir bleiben einen Tag, erkunden die engen Gassen. Unzaehlige Meditationskabinen liegen verstreut in der Ebene, uebersaehen die Huegel. Gebetsfahnen flattern im Wind, schmuecken Bruecken und Flussufer. Wir beobachten all die Leute: Alte Frauen mit wettergegerbten Gesichtern, junge Nonnen und Kinder, ein rockiger Motorradfahrer, lange Haare, Lederjacke, Sonnenbrille. Alle wandern sie die Kora, den heiligen Pfad ums Kloster. Im Himalaya beten nicht nur Steine, sondern auch Schritte. Jede Umwandlung staerkt die guten Wuensche, das Gebet. Der Motorradfahrer haelt am laengsten durch. Er rennt auch noch, als wir Stunden spaeter von unserer Teeinladung zurueckkommen. Unermuedlich. Wie lange schon? Wir laufen eine Runde mit ihm, lachen uns zu.

In Bayu bebt die Erde. Es ist drei Uhr morgens als uns das Zittern aus dem Schlaf reisst. Nur kurz, doch wir sind innerhalb von einer Minute hellwach. Vor ein paar Tagen hat es fuenfhundert Kilometer noerdlich ein heftiges Beben gegeben. Yushu, die Stadt am Rande des tibetischen Plateaus gibt es seither nicht mehr. Obwohl das volle Ausmass der Zerstoerung in der Zensur haengen geblieben ist und die Tragoedie sofort in monumentale Werbetrailer fuer die chinesische Regierung umgesetzt wurde, sitzen der Schrecken und die Bilder tief. Nicht nur bei uns, sondern bei der ganzen tibetischen Bevoelkerung. Es dauert keine Viertelstunde und die ganze Stadt ist in Alarmbereitschaft. Leute laufen nach draussen, machen Feuer, verbringen den Rest der Nacht unter freiem Himmel. Auch wir ziehen uns an, die Hotelzimmertuere bleibt in dieser Nacht offen. Noch zwei Tage spaeter legen wir am Abend die noetigsten Sachen neben dem Ausgang bereit.

Der Weg zum Tro La Pass ist staubig. Der Asphalt hat laengst aufgehoert und noch immer windet sich die Strasse dem Himmel entgegen, durch die schroffen Gipfel der Chola Mountains. Die Landschaft ist wild geworden, die Luft duenn. 4900 Meter, der hoechste Pass unserer Reise. Wir radeln auf der Strasse, die nach Lhasa fuehrt. Es sind nicht die ersten Pilger, denen wir begegnen, doch die zwei heute Abend werden wir nie mehr vergessen. Muede sind sie dahergekommen, eine Lederschuerze umgebunden, Holzbrettchen an die Haende geschnuert. Zwei Schritte laufen, eine Niederwerfung. Auf die Knie, in den Staub. Die Stirne beruehrt den Boden, die Arme ausgestreckt. Aufstehen, zwei Schritte laufen. 1000 Kilometer noch bis Lhasa, Meter um Meter, Pass um Pass. Tage, Wochen, Monate. Wir steigen ehrfurchtsvoll ab, essen zusammen unsere letzten Kekse, versuchen zu begreifen. Die beiden ueben sich auf ihrer Wallfahrt in Bescheidenheit und Demut. Welche Willenskraft muss man fuer einen solchen Weg aufwenden, welches Gefuehl empfindet man, wenn man nach dieser unfassbaren Leistung endlich sein Ziel erreicht? Das Wissen um die eigene Belastbarkeit, das Vertrauen in Koerper und Geist, das dabei entsteht, muss gewaltig sein.

Mit dem Wechsel der Provinz aendert sich die Landschaft. Wir fahren jetzt kontinuierlich ueber 4000 Meter Hoehe. Eine weite Hochebene unter dem Zauber des Lichtspiels, das Land der Golok Nomaden. Hier erhebt sich der Amnye Machen, der heilige Berg Osttibets, Sitz des maechtigen Berggottes Machen Pomra. Sein bodenloser Kristallpalast erreicht das Zentrum der Erde und seine Tuerme beruehren Mond und Sterne. Fels und Eis liegen unter seiner Herrschaft und das weisse Pferd Droshur traegt ihn in Windeseile in alle Weltgegenden. Der Berg ist das Ende unserer Fahrt durch Tibet. Bald darauf verlassen wir das Plateau. Von einem Tag auf den anderen gelangen wir in die Wueste. Erste Sandduenen tauchen auf, der Rand der Taklamakan ist erreicht.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell die Wochen auf einer Reise vorueberziehen. Naechte folgen auf Tage, etwas, das noch gerade in weiter Ferne gelegen hat, ist ploetzlich schon Gegenwart - Vergangenheit. Noch gerade haben wir im Angesicht des Yade Dragon Mountain Luftspruenge vollfuehrt, uns die Fahrt durch den Himalaya vorgestellt. Nun liegen die hohen Berge schon hinter uns, sind zu Erinnerungen geworden. Bereits sind wir damit durch Wind und Wetter gefahren, hat die Sonne auf sie heruntergebrannt. Sie sind stark geblieben. Ein unzerreissbares Spinnennetz aus Begegnungen und Geschichten. Es wird die Zeit ueberdauern. Das ist gewiss.

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