Äthiopische Zeitverschiebung

Und plötzlich ist das Unterwegssein mit einer anderen Zeitmessung nicht weiter ein Gedankenspiel, kein „was wäre, wenn...“ mehr, sondern Realität. Mit dem Überqueren der äthiopischen Grenze werden wir auf einen Schlag acht Jahre jünger. Im Land gilt der koptische Kalender mit dreizehn Monaten pro Jahr und somit betreten wir das Land statt am 1. Januar 2015 am 23. Tahsas 2007. Doch die ersten Tage im äthiopischen Hochland zeigen uns eine Welt, die weit mehr als nur acht Jahre in der Vergangenheit zu liegen scheint...

Goldgelbe Felder erstrecken sich über die hügeligen Höhenzüge. Kleine Siedlungen aus braunen, lehmverputzten Rundhäusern kauern sich in die Talmulden. Die halben Amphoren auf den Dächern werden ihrer Aufgabe als Feuerabzug nicht ganz gerecht. Rauch drückt durchs Stroh, der als grauer Schleier über die Strasse zieht und die Umgebung in ein kontrastarmes Licht taucht. Könnte man die Zeit hier wirklich anhalten, ergäben sich verblichene Standbilder, bereit, als Erinnerungsfotos an ein vergangenes Zeitalter über den Kaminsims gehängt zu werden. Aber da ist der unverkennbar süsslich beissende Geruch von verbranntem Kuhdung, die rhythmischen Bewegungen der Tagelöhner, die in Reihen auf dem Boden knien und mit der Sichel die riesigen Felder abarbeiten und die Szenen beleben. Ochsen laufen im Kreis, dreschen die Ähren zu Stroh. Ein goldener Schleier fliegt hoch in die Luft, der Wind bläst das unnütze Spreu nach Westen. Zurück bleibt ein Häufchen kleiner, brauner Körner. Tef, eine endemische Getreideart und Grundlage für das Nationalgericht Injera, ein saures, weiches Fladenbrot. Acht Jahre in der Zeit zurück? Nein, wohl eher achthundert. Als wäre ein Geschichtsbuch zum Leben erwacht, Kapitelüberschrift: Ackerbau im Mittelalter.

Doch unvermittelt wird das Buch zugeklappt, mit einem einzigen Wort. Eine leise hohe Kinderstimme, verzerrt und fordernd schreit sie über die Felder: „Mooooonnnneeeeeyyyy!“ Wie ein Echo pflanzt sie sich fort, von einem Dutzend anderer Kinder aufgenommen und sich uns rasch nähernd: „You, you, you...money, money, money.“ Dazwischen gibt es auch weniger gängige Einwürfe. Faranji (Ausländer), Abba (Vater), Heiland, und ab und zu ein verlorenes Welcome, gefolgt von einem überflüssigen Fuck you! Durchs ganze Land verfolgen uns die Stimmen, vom kleinen Kacker, der es ja nicht besser wissen kann, bis zum Erwachsenen, der es eigentlich besser wissen sollte. In den Steigungen grabschen sie nach unseren Sachen, ab und zu fliegt auch ein Stein. Wir haben es gewusst. Fahrradfahrer haben fast nur Schlechtes über das Land zu berichten. Doch zur Zeit ist es für Reisende der einzige Weg, der relativ sicher nach Süden führt. Wir müssen da durch.

Am Abend stoppen wir in einem kleinen Ort. Innerhalb von Sekunden versammeln sich mindestens fünfzig Neugierige um uns. Eigentlich wie immer, wenn wir irgendwo kurz anhalten. Hundert starrende Augen, mindestens die Hälfte davon von diesen unverschämten Knirpsen. Wir sind müde und möchten eigentlich nur noch möglichst rasch einen sicheren Übernachtungsplatz finden. Während sich Ivo auf die Suche nach dem Lehrer macht, halten Russell und ich die Stellung.

Einer der Männer beginnt ein Gespräch. Wie es uns in Äthiopien gefalle, will er wissen. Ein kurzer Moment betretener Stille. Nach einem Tag Hetze und Anmache fällt es nicht gerade leicht, über das Land zu schwärmen. Schliesslich rühmen wir die schöne Landschaft und den herrlichen Kaffee. Ja, der Kaffee ist wirklich nicht zu toppen! Jeden Morgen starten wir mit zwei Tassen davon. In jedem noch so kleinen Ort wird er frisch zubereitet. Ein einfacher Unterstand, in der Mitte steht ein niedriger Tisch, der mit frischem Gras bedeckt ist und auf dem die weissen Kaffeeschalen ordentlich in Reih und Glied stehen. Eine Frau sitzt dahinter und fächelt mit einem Kartonstück die Glut in ihrem kleinen Blechofen an. In einer Pfanne mit langem Stiel beginnt sie die, aus dem äthiopischen Hochland stammenden Kaffeebohnen zu rösten. Würzig verteilt sich der Duft und wird über die Strasse davongetragen, als sie die Pfanne schüttelt und durch die Luft schwenkt. Danach zerstösst sie die Bohnen in einem Mörser zu Pulver und brüht dieses in einem Tonkrug auf. Ein Klümpchen Weihrauch wird verbrannt, zwei grosszügige Löffel Zucker in die Tasse gegeben und der Kaffee von hoch aus der Luft eingegossen. Ein brauner, schaumiger Strahl. Der Himmel auf Erden...

Doch davon ist gerade nichts zu merken. Wir schmoren immer noch in der Hölle. Die Schlafplatzsuche zieht sich hin, die Menschenmenge rückt uns auf die Pelle. Ellbogen drücken in den Rücken, der Schweissgeruch nimmt zu. Auch unser Gesprächspartner hat jetzt genug. Er zieht einen Stock und geht auf die am nächsten Stehenden los. Die Menge flieht. Wir sind völlig perplex. Auf der einen Seite sehen wir jeden Tag, wie sich Erwachsene höflich und zuvorkommend begrüssen - ein respektvolles Händeschütteln, eine leichte Berührung mit der rechten Schulter - und dann wiederum gehen Erwachsene und Kinder mit Steinen und Stöcken aufeinander los.

Nicht nur der Zeit scheinen wir hier fremd, sondern auch dem Umgang untereinander. Nachdem es um uns lichter geworden ist, setzt unser Gegenüber das Gespräch fort, als hätte es die Attacke nie gegeben. Erwartungsvoll fragt er, was wir noch über seine Heimat wissen. Nun, den weltbesten Kaffee haben wir bereits erwähnt. Die weltbesten Sprinter kommen als nächstes an die Reihe. Und da ist so vieles, was Äthiopien von den anderen Ländern Afrikas unterscheidet. Äthiopien hat nicht nur eine eigene Zeitrechnung, sondern auch eine eigene Schrift, es ist der Geburtsort der Rastafari Anhänger und das einzige Land Afrikas, das nie kolonialisiert wurde. Geblieben ist eine faszinierende kulturelle Vielfalt. Darauf sind die Menschen stolz.

Während des zweiten Weltkriegs hatten die faschistischen Italiener das Land zwar für kurze Zeit erobert, wurden aber zum Ende des Krieges wieder vertrieben. „Wir sind das einzige Volk Afrikas, das die weissen Besatzer selbst aus dem Land verjagen konnte!“ betont der junge Äthiopier nun. „...Mit Hilfe der Briten“, wagt Russell eine kleine Korrektur. Doch das findet bei den Umstehenden keine weitere Beachtung. Mit der Vertreibung der Italiener erlangte Äthiopien zwar seine Freiheit wieder, doch seinen Meeranschluss verlor es für immer an Eritrea. Die Quelle allen Reichtums, der Seehandel mit dem Weihrauchland Jemen versiegte. Eine knapp zwanzig jährige sozialistische Militärdiktatur zog auf und das Land versank in bitterer Armut. Ist es dieser Hintergrund, der immer noch die Verachtung aller Fremden im Land nährt und die fliegenden Steine erklärt?

Bei unserem fröhlichen Small Talk wird eine weitere Runde mit dem Stock fällig. Ivo kommt von der Nachtplatzsuche zurück. Er hält die Daumen hoch. Wir können im Garten eines Hauses übernachten. Der Besitzer ist Polizist und hat ein AK-47.

Am nächsten Tag geht es in steilen Serpentinen über 1500 Höhenmeter in die Nilschlucht hinunter. Auf dem Grund überspannt eine elegante Hängebrücke den Fluss, gebaut und finanziert von den Japanern. Im vergangenen Jahrzehnt hat Äthiopien im Schnitt drei Billionen Dollar pro Jahr an Entwicklungshilfe erhalten.

Und das Land braucht sie zweifellos, denn seine Probleme sind vielfältig: Chronische Nahrungsmittelknappheit wegen der fehlenden Landwirtschaftsreform und regelmässigen Dürreperioden, eine Analphabetenrate von über 64% und damit eine ungenügende technische Bildung der Erwachsenen, kein Zugang zu sauberem Trinkwasser, AIDS, eine der schlechtesten Gesundheitsversorgungen der Welt. Dazu schrecken Korruption und ein willkürliches Rechtssystem ausländische Investoren ab. Doch je länger wir hier unterwegs sind, desto mehr bekommen wir den Eindruck, dass absolut nichts koordiniert wird. Jede Organisation macht, was ihr gerade in den Sinn kommt, Geld wird ohne Gegenleistung mit vollen Händen verteilt. Und so reimen wir uns dann den zweiten Teil der äthiopischen Unfreundlichkeit zusammen. Das dauernde „give me, give me, give me...“, die überteuerten Faranjipreise, das Selbstverständnis mit dem der Geldfluss aus den „developed countries“ in Empfang genommen wird. Doch zum Glück gibt es auch Organisationen, die sich über Nachhaltigkeit Gedanken machen. Helvetas bringt zum Beispiel in Hilfsprojekten ausgebildete Hängebrückenbauer von Nepal hierher, um das Know How weiterzugeben.

Nach drei Wochen Spiessrutenlauf versuchen wir dem Land nochmals eine Chance zu geben. Wir stellen unsere Fahrräder ein und machen uns auf zu einem fünftägigen Trekking durch die Bale Mountains, dem letzten Rückzugsort der vom Aussterben bedrohten äthiopischen Wölfe. Und der UNESCO Nationalpark wird auch für uns zu einem Rückzugsort.

Bis auf viertausend Meter hinauf führt uns der Weg, in eine einsame Landschaft aus kargen Hochebenen, klaren Bächen und kleinen Seen, die ans schwedische Fjäll erinnert. Wir durchqueren weite Lobelienwälder, streifen durch Wacholdergebüsch und an silbrig glänzenden Steinbrechpolstern vorüber. Am Abend sammeln wir wilden Oregano, um die Pasta zu verfeinern und geniessen den funkelnden Sternenhimmel, bevor uns die Kälte ins Zelt treibt. Die Ruhe in der Natur tut uns gut und so gelingt es uns, die letzten fünfhundert Kilometer im Land mit frischer Kraft anzugehen.

Im Omo Tal scheint die Zeit weiter angestaut und zur Ruhe gekommen zu sein. Frauen in gegerbter Lederkleidung und Tierfellen wandern auf der Strasse, mit blossen Brüsten und Hälsen, die unter schweren Muschelketten verschwinden. Wir begegnen Männern mit kunstvollen Frisuren, Zierringen und Schmucknarben. Doch auch hier klafft ein Riss im Zeitsprung.

Die Region ist längst vom Tourismus entdeckt worden. Es grassiert eine Menschensafari in ihrer hässlichsten Form. Raus aus dem Jeep, Geld fliegt, die Kamera rattert und schon geht es ab ins nächste Dorf. Da machen wir nicht mit. Unsere Bilder haben wir uns noch nie erkauft. Ohne Erlaubnis und mit einer Zoomlinse auf dem Kasten machen wir keine Porträts. Nur ein einziges Foto wird uns geschenkt. Doch es reicht, um unsere Hoffnung zu wecken. Die alten Nomadenstämme hier leben verstreut im Grenzland. Vielleicht warten auf unserem weiteren Weg noch Begegnungen mit diesen Menschen auf uns, hinter denen wir stehen können. Dem Turkana See entlang verlassen wir Äthiopien. Eine einsame Staub- und Sandwüste liegt vor uns, heisse und anstrengende Tage, ein kleines Stück Kenia und dann – Uganda...In Omorate erhalten wir den Ausreisestempel. Auf dem Papier werden wir wieder acht Jahre älter, doch gerade jetzt fühlen wir uns um Jahrzehnte gealtert. Äthiopien hat uns erschöpft. Wir freuen uns, wieder in einer anderen Welt unterwegs zu sein, wo wir Menschen freundschaftlich gegenübertreten können, wo wir darauf zählen können, dass uns geholfen wird, wenn es nötig ist. Äthiopien hat uns gelehrt, solche Momente auch in Zukunft nie als selbstverständlich hinzunehmen.

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