„Habt ihr eigentlich nicht schon alles gesehen?“ Werden wir manchmal gefragt, wenn bei einer Begegnung unser Nomadenleben zur Sprache kommt. Wir antworten dann jeweils mit „die Welt ist so gross, da reicht ein ganzes Leben nicht“, doch ehrlicherweise müssen wir zugeben, dass es für uns immer schwieriger wird, noch Orte zu finden, an denen unser Reisefieber steigt. Nicht, weil wir bereits alles gesehen hätten, nein, bei weitem nicht, sondern weil wir wählerisch geworden sind. Wir geben uns nicht mehr gerne mit Kupfermünzen ab, es müssen Goldstücke sein. Und Goldstücke sind für uns Orte, die uns körperlich und mental herausfordern, Regionen, in denen wir zu Entdeckern werden können. Daher zieht es uns dorthin, wo Informationen spärlich sind und Mister Google uns nicht weiterhelfen kann. Genau dort steigt unser Puls, wie bei einem Schatzsucher, dessen Schaufel über einen Truhendeckel kratzt. Genau dann fühlen wir wieder dieses Kribbeln im Bauch, und es ist, als würden wir zu unserem ersten Reisetag aufbrechen.
Der Russische Altai ist so ein Ort. Wir haben Fährte aufgenommen und obwohl uns das Internet weismachen will, dass individuell Reisende die nötigen Bewilligungen für die Grenzregion nicht erhalten, dass das Russische Militär Ausländer ohne Führer nicht passieren lässt, können wir nicht davon lassen. Wir haben uns in die Idee verbissen, wie ein räudiger Köter in einen alten Knochen. Ein Schatz wartet dort auf uns, wir können das Gold bereits riechen.
Um einen Schatz zu finden, braucht es nicht nur eine gute Karte, sondern auch eine Portion Glück. Und das stellt sich schon am nächsten Tag ein, als wir eine Reiseagentur im Altai anschreiben und um die Organisation eines Grenzpermits bitten. Wir erhalten nicht nur ein perfekt verfasstes Antwortmail auf Englisch, sondern auch die Bestätigung, dass wir die Bewilligung in zwei Monaten in der Militärkaserne von Kosh Agach abholen können. Ohne zusätzliche Einschränkungen. Ha! Nun brauchen wir noch ein russisches Visa, und da dies nur im Heimatland ausgestellt wird, müssen wir etwas tiefer in die Reisetrickkiste greifen. DHL fliegt unsere Pässe nach Hause, ein Schweizer Visaservice kümmert sich um die Papiere. Und genau zwei Monate später reisen wir von der Mongolei nach Russland ein. Die Schatzsuche kann beginnen.
Schätze zu finden ist bekanntlich knifflig. Doch hier ist es ein Kinderspiel. Auf unserem Weg über das Ukok Plateau liegt das Gold nämlich am Strassenrand. Wir brauchen es bloss aufzusammeln. Das Steppengras leuchtet, Wollgras raschelt im Wind und am Horizont thront ein Kristallpalast: Die Viereinhalbtausender des vergletscherten Tavan Bogd Massivs. Das Ukok Plateau ist ein Kraftort, seit ewiger Zeit ein heiliger Platz für die hier lebenden Tuwa und Kasachen. Spätestens mit dem Fund der Altai Prinzessin und ihrer Entourage aus Kriegern und Pferden in einem Hügelgrab, konserviert vom Permafrost, ist das Ukok Plateau auch international ein Begriff geworden. Die Prinzessin ist ausgegraben und liegt gegen den Willen der lokalen Bevölkerung im naturhistorischen Museum in Novosibirsk, doch das Geheimnis des von hohen Bergen umgebenen Plateaus bleibt. Es ist ein magischer Ort, durchzogen von unzähligen mäandernden Wasserläufen, einsam, wild, verwunschen. Manche reden von einem riesigen natürlichen Parabolspiegel, der Strahlungen aus dem Kosmos auffängt.
Am dritten Tag holt uns eine Regenfront ein. Das goldene Leuchten erlischt, weicht einem stumpfen, bleiernen Grau. Die Regenkleidung lässt im Nu durch und kalte Rinnsale sickern in unsere Begeisterung. Wir brauchen einen Unterschlupf, so macht das keinen Sinn. Weiter vorne im Tal können wir gerade noch ein paar Gebäude durch die Wolken erkennen, dann klatscht uns der Wind den Regen fast waagrecht ins Gesicht. Als wir das verlassene kasachische Winterlager erreichen, könnten wir mit dem Wasser in unserer Unterwäsche glatt eine Tasse Tee kochen. Wir retten uns in die Sauna, ein kleines, mit Moos isoliertes und komplett verrusstes Blockhaus. Eigentlich sollten wir uns ja jetzt mit dieser Kupfermünze zufrieden geben, aber da steht ein rostiger Fassofen und damit das Potential unser Refugio erneut in ein Goldstück zu verwandeln.
Draussen aufgeschichtet liegen wie übergrosse Bienenstöcke getrocknete Dungfladen. Heizmaterial in einer baumlosen Ebene. Durch den Regen schleppen wir ein paar Stücke in die Sauna und füllen den Ofen damit. Bald wird es warm und gemütlich - halt! Filmriss. Bald husten wir uns die Lunge aus dem Leib und flüchten hinaus in den strömenden Regen. Unser Refugio, ein schwarzes Rauchloch. So ein Mist! Bibbernd stehen wir in der Kälte, ärgern uns über uns selbst und die Situation im Allgemeinen. In einem der Ställe finden wir eine Flasche Benzin und gehen zum Angriff über. So leicht lassen wir uns nicht aus unserer Bleibe vertreiben. Vermummt wie echte Banditen stellen wir uns dem Gegner. Ein grosszügiger Schuss Benzin direkt in den Ofen, eine hohe Stichflamme und dann - Sieg! Die Scheisse brennt, der Rauch zieht langsam ab und wir gewinnen unseren verloren geglaubten Boden zurück. Bald trocknen unsere Kleider an einer Leine über uns.
Am nächsten Morgen liegt dichter Nebel über dem Plateau. Wir fühlen die Nähe des Herbsts. Doch dann bricht die Sonne durch, giesst erneut flüssiges Gold über die Hochebene. Der Wind jagt Gespenster aus Nebelschwaden übers Moor, die bald wie Spinnweben zwischen den Gräsern hängen bleiben und zu schillernden Glasperlen kondensieren. Als wir startklar sind, hat sich das Wetter zu einem dieser Herbsttage gemausert, an denen die Welt strahlt.
Wer einmal vom Goldwahn erfasst wird, kann nicht mehr davon lassen. Er rafft zusammen, was er kann und bekommt doch nie genug. Und so hören auch wir nicht die Stimmen der Einheimischen, welche meinen, dass der Weg durchs Arguttal und über drei Trekkingpässe, welchen wir geplant haben, nicht möglich sei mit dem Bike. Wir sehen nur diesen türkisgrünen Fluss, diese archaische Bergwelt, diese Piste, welche den Argut in schwindelerregender Höhe und steilem Auf und Ab durchs Tal begleitet und wir wissen: Da gibt es noch mehr zu holen.
Nach knapp fünfzig Kilometern erreichen wir einen kleinen Weiler und das Ende der Strasse. Auf unserer Karte ist er als Komuna Argut eingetragen und wir scheinen mit dem Überqueren der alten Holzbrücke wirklich mit einem Fuss in der Sowjetzeit gelandet zu sein. Kleine, von der Sonne dunkelbraun gebrannte Blockhäuser mit blaubemalten Fensterrahmen und weissen Fensterstreben. Die Dorfbewohner mit asiatischen Gesichtszügen, in tarnfarbenen Überkleidern und mit Pferd und Traktor in Gemeinschaftsarbeit am Heuen. Was in aller Welt hält diese Menschen hier fest? An diesem Ort, vergessen, aus der Zeit gefallen… Doch dann schauen wir um uns, sehen es, das Glänzen in den Augen. „Krassiva?“, fragt uns ein Mann, auf seine Heugabel gestützt. Ja, schön, dieser Flecken Erde ist wunderschön. Wir fragen, ob jemand Lust hat, uns mit Pferden über die nächsten vierzig Kilometer Trekkingweg und die Pässe zu helfen. Wir ernten ein freundliches, aber bestimmtes „Njet!“. Die Arbeitskräfte und Pferde werden zum Heuen gebraucht. Die Spitzen der Berggipfel sind schon verschneit. Und warum sollte jemand Geld verdienen wollen, wenn er schon Gold hat?
Als hätte uns die Strömung des Argut erfasst, als wäre jeder Gedanke zur Umkehr gegen das Gesetz der Natur, so fühlen wir uns, inmitten dieser mächtigen Landschaft. Wetten, dass es bei der nächsten Flussbiegung noch schöner ist, wetten, dass am Fuss des Mount Belucha nicht nur Goldstücke, sondern auch Edelsteine liegen? Und so gehen wir weiter. Trotz der fehlenden Hilfe, trotz der quälenden Stimme der Vernunft können wir nicht umkehren. Wir wollen weitersuchen, weiter entdecken, Eldorado finden.
Leider gibt es im Arguttal nicht nur Gold, sondern auch Fels. Nach zwölf Kilometern auf einem völlig verblockten und rutschigen Pferdepfad sind wir erschöpft und spüren: Falls wir nicht sofort den Jungbrunnen finden, ist unsere Schatzsuche hier zu Ende. Sollten wir nicht zufrieden sein? Haben wir nicht genug bekommen? Doch! Und so rollen wir unsere Karte ein, kehren um, das Herz voll mit Schätzen. Irgendwann werden wir zurückkehren, ohne Bikes, aber mit guten Wanderschuhen und einem Rucksack. Denn als richtige Schatzsucher wissen wir: Solange es noch unerforschte Kreuze auf dem Schatzplan hat, liegt da noch etwas vergraben.
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