Orte und Gesichter Nepals

Kerzen in den Strassen von Pokhara - warmes Licht, das die Hauseingänge füllt. Farbenfrohe Mandalas aus Sand auf den Gehsteigen, orange zieht sich eine Spur in die Läden und Cafés, meist direkt zur Kasse. Es ist Tihar, das Lichterfest in Nepal. Die Kerzen und Muster sollen Glück und Wohlstand bringen. Und in Pokhara liegt für viele das Glück in den klingelnden Kassen. Während unserem Dolpa Trekking hat sich die Stadt mit Touristen gefüllt. Es ist Hauptsaison, die Strassen vollgestopft mit ziellos schlendernden Kulturhungrigen. Alle sind sie hier, um ihr ganz persönliches Stück Himalaya abzuschneiden, Scheibe für Scheibe, bis diese so dünn werden, dass nichts mehr übrigbleibt als ein paar Krumen, ein schneller Biss, ein rasches Kauen. Herunterschlucken.

Pokhara könnte irgendwo auf der Welt sein, dieselben Cafés, welche mit double Espresso, hot chocolate, Kuchen, Burger und Pizza aufwarten, welche man auch in Quito, el Calefate, Goa oder Samarkand findet. Und trotzdem ist es heute anders, mit all dem Kerzenlicht und den Tänzern in den Strassen. Ein bisschen wie Disneyland, Weihnachten und Karneval zusammen.
Zehn Tage sind schon wieder verflossen, seit wir dreckig, aber glücklich aus den Bergen zurückgekehrt sind. Wir haben mindestens zweimal am Tag heiss geduscht, Filme geschaut und gegessen. Und dann, irgendwann an einem Morgen wie jedem anderen, haben wir unsere Sachen gepackt, uns in die Sättel geschwungen und sind rausgefahren, weg vom ganzen Tumult, zurück ins alltägliche Nepal.

Hoch hinaus schwingt die Schaukel. Vier Bambusstangen halten das Seil, das Kind darauf jauchzt, während es dem Himmel entgegen fliegt. Die Festzeit in Nepal bringt nicht nur Licht und Wärme, sondern auch Freude und Erneuerung. Schlechte Gefühle werden ganz einfach weggeschaukelt. Und es scheint zu funktionieren. Niemand hat dabei einen Miesepeter aufgesetzt. Vielleicht sollten auch wir in der Westlichen Welt ab und zu mal schaukeln.

Für unseren Weg von Pokhara nach Kathmandu haben wir uns Nebenstrassen ausgesucht. Auf der geteerten Hauptstrasse, auf der all die verrückten Busse hupend und rasend durchs Tal krachen, haben Radfahrer nichts verloren. Steil geht es hoch und runter, oft mehr als 1500 Höhenmeter pro Tag. Vom Monsoon ist nichts mehr geblieben. Die Pisten sind staubtrocken, ein feines, knöcheltiefes Pulver, das bei jedem vorbei holpernden Bus oder Moped aufgewirbelt wird und sich dann als feiner Schleier über alles legt.

Tag für Tag scheint die Sonne und die Reisfelder werden abgeerntet. Eine harte, zeitraubende Arbeit. Es wird gesichelt, getrocknet und geschlagen von morgens früh bis abends spät. Reis ist das Hauptnahrungsmittel in Nepal. Wir hätten nichts dagegen, doch der Reis landet ausnahmslos im standardmässigen Dal Bhat. Reis mit Linsensuppe. Einmal fragen wir in einer Strassenküche nach "Fried Rice". Der Besitzer starrt uns überfordert an: "I have no idea how to make that." Und so bleibt dann auch unser Speiseplan täglich der gleiche. Frühstück: Gebratene Nudeln von unterschiedlicher Qualität, meist gut abgelagert...Mittagessen, schnell und überall verfügbar: Instant Nudeln. Nachtessen: Dal Bhat. Schon bald sehnen wir uns zurück zu den reichhaltigen Menus in Pokhara. Doch wenigstens billig ist es, Tagesbudget zu zweit: Zehn Franken. Davon je zwei Franken für eine Mahlzeit, und vier Franken für die Unterkunft.

In Kathmandu machen wir eine weitere lange Pause. Zwar hassen wir die Stadt mit dem Verkehrschaos, dem Smog und Dreck. Doch an Kathmandu kommt niemand vorbei. Eine Woche warten wir auf das Indienvisa, eine zweite auf das von Myanmar. Dazwischen lösen wir uns die nötigen Bewilligungen für ein weiteres Trekking, diesmal in der Everest Region.

Nepal hat zwei Gesichter. Zum einen sind da die Superlative: Die höchsten Berge der Welt, Hängebrücken, welche sich über tiefe Schluchten spannen, das Land der Bergsteiger und Helden. Gemütliche Teehäuser, lächelnde Sherpas, einsame Trekkingpfade. Doch der grösste Teil von Nepal zeigt ein anderes Gesicht. Grüne Hügel, Reisfelder, einfache Häuser. Hier wird ganz unspektakulär gelebt und gearbeitet. Weit weg sind alle Touristen, die netten Gästehäuser, die warmen Duschen, frischen Apfelkuchen und frittierten Snickers. Durch dieses Hinterland führt uns unser weiterer Weg, zuerst noch auf einer nagelneuen, japanischen Teerstrasse, dann wieder auf staubigen, ausgefahrenen Pisten. Tausend Meter hinunter, tausend Meter hinauf, und hinauf und hinauf. So weit, bis die Strasse endet. In Taksindo, am Rand des Khumbu Tals stellen wir unsere Bikes bei einem Guesthouse ein und von nun an geht es zu Fuss weiter. Wir wollen den Three Passes Trek im Sagharmata Nationalpark laufen. Und als hätte man Nepal eine Maske aufgesetzt, sind wir plötzlich wieder mitten drin, im Rummel um die höchsten Gipfel.

Kleine Propellerflugzeuge laufen im Halbstundentakt das Rollfeld in Lukla an. Hier spucken sie die Everesthungrigen aus, gefolgt von Führern und Trägern. Wir wundern uns, was da alles hochgeschleppt wird, gibt es doch jeden Abend geheizte Gästehäuser und Essen. Es sind Leute unterwegs, die zu Hause nicht einen Schritt vor die eigene Haustüre setzen würden. Aber hier ist alles ganz einfach. Träger sind billig, Sherpas freundlich und hilfsbereit. Eine Gruppe Träger überholt uns. Auf ihren mannsgrossen 100 Liter Säcken steht "responsible trekking. One trekker = one porter". Als wir am Abend in unsere Unterkunft einchecken, fragt uns der Besitzer: "Where is your backpack?" Wir schauen uns erstaunt an. Nein nein, das sind nicht nur unsere Tagesrucksäcke... 80 bis 100kg schleppen die Träger, welche Namche Bazar, das Hauptdorf in der Everest Region mit Waren versorgen. Mindestens 50% von allem, was dort hochgetragen wird, sind Luxusgüter. Hauptsächlich Bier.

Wir laufen zügiger, machen lange Tagesetappen und schnelle Anstiege, um den Leuten zu entkommen, um zurückzufinden in eine ruhigere Bergwelt. Zwei Alpinisti aus dem Tessin mit Pickel, Steigeisen und Schalenschuhen, die ebenfalls den Three Passes Trek wandern, prophezeien uns, dass wir ein Hirnödem erleiden und mit unseren "Halbschuhen" auf dem Cho La Pass Gletscher sterben würden. Wir verkneifen uns eine Antwort, verabschieden uns höflich und machen, dass wir weiterkommen. Nach fünf Tagen wird es ruhiger, die Nächte kälter, die Luft klarer. Tibetische Gebetsfahnen flattern an den Häusern, Yakkarawanen kreuzen uns in einem wilden Bergtal.

Am Mittag erreichen wir den Renjo Pass auf 5390 Meter. Als wir den scharfen Grat zur Ostseite hin überschreiten, trifft es uns wie ein Donnerschlag. Da stehen sie, die Bergriesen unserer Welt, majestätisch, kalt, schroff und wunderschön. Als wir vom Pass herunter steigen, ist es, als würden wir durch ein IMax Kino laufen, mit einer Leinwand, die den ganzen Horizont umspannt. Und obwohl wir vom 1000 Meter Auf- und dem darauffolgenden Abstieg müde sind, können wir es nicht lassen, gleich nochmal 600 Meter auf den Gokyo Ri hinaufzusteigen, um den Sonnenuntergang zu bewundern. Wir fühlen uns fit, sind hellwach und ein bisschen berauscht von der dünnen Höhenluft. Als die Sonne langsam dem Horizont zusinkt, der Nebel durch das Tal hochsteigt und das Panorama in weiches Abendlicht hüllt, wissen wir, dass es trotz all den touristischen Nebeneffekten der Everest Region kein Fehler war, hierher zu kommen. Wir staunen in die Stille. Und dann schläft der höchste Berg der Welt ein.

Die nächsten Tage wandern wir über zwei weitere hohe Pässe, wie zwei Schlafwandler in einem süssen Traum. Einmal abgesehen vom Haupttrail zum Everest Base Camp begegnen wir jetzt in der Nebensaison so hoch oben kaum mehr anderen Trekkern. Zwar vermissen wir die kulturellen Begegnungen und die totale Abgeschiedenheit, welche wir in der Dolpa Region erleben durften, aber am gigantischen Panorama, den archaischen Gletschern und türkisfarbenen Seen können wir uns kaum sattsehen.

Nach zwölf Wandertagen sind wir zurück in Taksindo bei unseren Velos. Von hier aus geht es für uns auf dem "Midhill Highway", einer rauen und staubigen Bergpiste weiter an die Ostgrenze. Nepals Maske fällt, was darunter erscheint, ist dieses wettergegerbte, offene Gesicht, welches wir nun schon so gut kennen: Faltig, ungewaschen und abgehärmt. Doch wenn man ihm ein freundliches "Namaste" zuwirft, dann findet man ein Lachen in seinen Augen. Manchmal ein bisschen zu übereiferig, zu schrill oder in seinem Ansatz erstarrt, weil es nicht begreift, wie ihm geschieht, wenn es die beiden Radler erblickt.

Mittlerweile haben wir uns auf wenige Tage an Nepals Ostgrenze herangearbeitet. Der tägliche Rhythmus aus aufstehen, radeln, schieben, schwitzen, Staub und Dal Bhat schlucken, ist uns zur Gewohnheit geworden. Doch schon bald verabschieden wir uns von Nepal. Nach drei Monaten erwartet uns erneut Indien. Zeit, einem alten Bekannten ins Gesicht zu blicken.

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