Es gibt Orte auf der Welt, die uns auf besondere Weise anziehen und nicht mehr loslassen. Auslöser dafür können spektakuläre Landschaften sein, abenteuerliche Wege und Strassen oder aussergewöhnliche Begegnungen mit Menschen. In Madagaskar ist von allem etwas dabei. Deshalb kehren wir auch immer wieder zurück.
Zwei Jahre sind seit dem letzten Mal vergangen und trotzdem fühlen wir uns sofort wieder heimisch. Die Eau-Vive-Reklame an der Hauswand, der verwitterte weisse Kilometerstein am Rand des Reisfeldes, das kunterbunte Chaos aus Menschen und Waren entlang der Strasse, der Rauch der Holzkohlefeuer in der Luft. Zweifellos noch Afrika, aber eben auch schon ein ganzes Stück Asien. Freundliche, gelassene Gesichter, die uns willkommen heissen und irgendwo da draussen eine grossartige Wildnis. Keine Big Five, aber voller Tiere, die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Es ist schön, wieder hier zu sein und wir freuen uns darauf, das Land mit unseren drei Gästen aus der Schweiz während knapp vier Wochen erneut entdecken zu dürfen.
Die erste Station unserer Reise führt uns zum Wandern nach Süden. Auf dem wöchentlichen Markt kaufen wir letzte Kleinigkeiten für unser fünftägiges Trekking ein. Ein Eintauchen in den madagassischen Alltag: Getrocknete Fische, geröstete Heuschrecken, kunstvoll aufgetürmte Tomatenberge und Bohnenhäufchen, Enten und Hühner neben Ananas und Orangen. Und dazwischen immer wieder lachende und winkende Madagassen. Kaum etwas scheint sich geändert zu haben, seit wir das letzte Mal hier waren. Trotz Armut und Missständen im Land tragen die Madagassen ihr Schicksal mit Würde und teilen ihre Lebensfreude mit derselben Herzlichkeit wie eh und jeh.
Über eine ruppige Erdpiste durch ein idyllisches Bergtal voller Reisfelder erreichen wir den Ausgangspunkt unseres Trekkings. Hier lernen wir unsere Führer und Träger kennen, die uns die nächsten Tage begleiten. Silvan, ein älterer Madagasse aus dem Stamm der Betsileo steigt uns am nächsten Tag voran. Mora-mora – langsam, langsam setzen wir auf dem gut ausgebauten Wanderweg einen Fuss vor den anderen. Mora-mora - es wird schon bald zum Motto der ganzen Reise. Nur mit der Ruhe, Hektik und Stress sind den Madagassen fern. Gerne tauchen auch wir in diese Zeitlosigkeit ein, lauschen den Geschichten von „autrefois“ - von damals, die uns die Denkweise und Lebensart der Madagassen näherbringen. Auf 2000 Meter stellen wir die Zelte auf, die Dunkelheit bringt Kälte mit. Ein Feuer wird entzündet, eine kleine Gitarre gestimmt, ein uralter Rhythmus aufgenommen, gesungen, geklatscht und getanzt. Funken sprühen in die Nacht, Gänsehaut. Über uns die Milchstrasse, ein silbernes Band am Nachthimmel. Sternschnuppen fallen, wir übernachten in unserem ganz persönlichen „million star“ Hotel.
Am nächsten Morgen überzieht Raureif die Zelte. Die Grashalme glitzern in der aufgehenden Sonne. 600 Höhenmeter erklimmen wir, mora-mora. Entlang mächtiger Grantifelsen und durch ein Hochtal erreichen wir den Gipfel. 360° Rundblick, dem Himmel ganz nah. Weit unter uns der endlose staubige Süden.
Am folgenden Tag überqueren wir eine ethnische Grenze, wechseln vom Stammesland der Betsileo, den kunstvollen Reisterassenbauern in dasjenige der Bara, der stolzen Rinderzüchter. Die Landschaft wird trockener. Gelbes Steppengras, erste Sukkulenten und Aloen wachsen zwischen den Felsen und schon bald hüpfen Kattalermuren um uns herum.
Zwei Autotage bringen uns vom Hochland an die Westküste. Die rot verputzten Ziegelhäuser machen Platz für die aus Schilf und Bananblättern geflochtenen Hütten der Küstenregionen. Erste Baobabs spiegeln sich in den knallgrünen Reisfeldern und dann haben wir auch schon das Rauschen der Wellen im Ohr und das Salz des Meeres auf der Haut.
Vier Stunden im Motorboot bringen uns in eine kleine Lodge, an einen Traumstrand am Rand eines Vezo Fischerdorfes. Wir haben diesen Ort vor einigen Jahren auf einer unserer ersten Madagaskarreisen kennen gelernt. Noch gut erinnern wir uns daran, wie wir damals zufällig auf die Vezo Nomaden gestossen sind. Plötzlich tauchte am Horizont eine kleine Flotte Segelpirogen auf, die rasch näher kam und während wir noch staunend am Strand standen, luden die Menschen ihren ganzen Hausrat aus den Einbäumen, rammten eines der Ruder in den Sand und spannten das Segel als Zeltdach darüber. Fasziniert sahen wir zu, wie sie sich innerhalb weniger Minuten häuslich einrichteten. Auch heute sind die Vezo noch unterwegs, befahren während des Südwinters den Küstenabschnitt zwischen Tulear und Maintirano, leben vom und mit dem Meer. Auf einer der vorgelagerten Inseln treffen wir eine Gruppe von ihnen, schauen zu, wie sie den gefangenen Fisch einsalzen, um ihn dann später auf den Märkten im Inland gegen Reis zu tauschen. Wir beobachten, wie sie ihre Netze flicken, mit der Harpune im seichten Wasser auf Tintenfischjagd gehen oder ganz einfach die heissen Mittagsstunden im Schatten der Segel – mora-mora - verschlafen. Die Kinder bauen am Strand kleine Pirogen und lernen damit gleichzeitig Wichtiges für ihre Zukunft. Doch wie lange sich die Vezo ihr freies Nomadenleben noch erhalten können? Auch hier bedrohen Klimawandel und Umweltzerstörung die uralte Lebensweise immer mehr.
Etwas weiter im Inland wächst ein Baobab Wald. Mahazanga, unser Führer erzählt uns mit einem Augenzwinkern: „Als der Schöpfer die Baobabs schuf, wollten diese sich einfach nicht wie richtige Bäume benehmen. Stets liefen sie nachts herum und standen am nächsten Morgen nicht mehr dort, wo sie sein sollten. Schliesslich hatte Gott genug von diesem unbaummässigen Benehmen, riss die Bäume aus dem Boden und setzte sie verkehrt herum wieder ein. Deshalb sehen sie so aus, als steckten sie ihre Wurzeln in die Luft.“ Nun stehen wir vor einem besonders eindrücklichen Exemplar. Zwanzig Meter Umfang misst der Stamm, ein Baobab wächst pro Jahr etwa fünzig Zentimeter. Eine kurze Stille, während wir alle wie wild Kopfrechnen. 1400 Jahre – kann das sein? Kein Wunder gilt dieser Baum als heilig. Der über achtzigjährige Hüter des Baumes, der uns begleitet, kniet sich mühselig am Fusse des Kolosses nieder, gräbt zwischen den Wurzeln nach ein paar alten Münzen, die wir eine nach der anderen wieder auf die Erde legen. Ein Pfiff durch die Finger und dann, halb singend, halb sprechend bittet er um die Erfüllung unserer Wünsche: Bonheur, santé, et un bon voyage. Von nun an kann nichts mehr schiefgehen.
Und tatsächlich, während der nächsten Tage sitzen uns die Lemuren fast auf dem Kameraobjektiv. Auf Wanderungen durch den Trockenwald sehen wir die ganze Palette von Madagaskars fantastischer und einzigartiger Tierwelt. Sifakas turnen wenige Meter von uns entfernt durch die Bäume, der Lepilemur blinzelt uns mit seinen grossen Augen verschlafen an. Der Mausmaki steckt sein Köpfchen aus der Baumhöhle und wackelt lustig mit seinen Ohren und auch die verschiedenen Chameleons geben sich die Ehre. Auf Tages- und Nachtwanderungen erkunden wir die Umgebung um unser Camp, das von einer NGO gegründet und mit der Lokalbevölkerung unterhalten wird. Geräumige, überdachte Safarizelte inmitten des Waldes, nachhaltiger Ecotourismus wie aus dem Bilderbuch.
Die Anfahrt zu den Tsingy ist berüchtigt. Wie haben wir damals mit unseren Velos über den weichen Sand, den juckenden Staub und die Hitze geflucht. Auch mit dem 4x4 sind die rund hundert Kilometer bis Bekopaka immer noch ein kleines Abenteuer. Vor allem die Flussquerungen des Tsiribihina und des Manambolo lassen so richtiges Afrikafeeling aufkommen und zeigen die Kreativität der Madagassen. Der Benzintank des Pontons hängt als Kanister an einem dünnen Seil in der Luft, während ein PVC Schläuchchen als Leitung zum Motor fungiert. Was kriminell aussieht, funktioniert seit Jahren perfekt.
Die Tsingy de Bemeraha sind eines der UNESCO Weltnaturerben von Madagaskar und das zu recht. Eine bizarre Urwelt, die die Natur mit Hilfe von Wasser und Wind hier über Jahrmillionen aus versteinerten Korallenbänken und Sedimenten geschliffen hat. Wir warten auf den Sonnenuntergang. Die letzten Strahlen streichen über die spitzen Nadeln der Karstlandschaft, fluten über Zinnen und Türme, werfen Schatten in Spalten und Schluchten. Das Abendrot bringt den grauen Stein zum Glühen und dann strömt die Dämmerung wie eine Erinnerung an eine dunkle Welle über das harte Riff hinweg und lässt die Konturen in der Nacht versinken.
Mit einer kleinen privaten Cessna fliegen wir zurück ins Hochland. Faszinierende Ausblicke auf die Tsingy, dann auf weite Flächen braunes Land, vereinzelte Waldinseln. Immer wieder steigt Rauch auf, Brandrodung. Erosion, die grossen Flüsse als rostbraunes Band. Das Bevölkerungswachstum fordert seinen Preis.
Bereits geht unsere Reise dem Ende entgegen. Die letzten drei Tage verbringen wir in einem Bergregenwald in der Nähe von Tana. Es ist eines der letzten Reservate, wo der singende Indri, der grösste Lemur Madagaskars lebt. Im Gegensatz zu den Indris im vielbesuchten Perinet Reservat ist er hier fast schwarz – eine Seltenheit. Auch die scheuen und schnellen Diademsifakas bekommen wir am letzten Tag schliesslich noch zu Gesicht. Doch fast ebenso spannend ist der Besuch des nahen Hochlanddörfchens, wo wir noch einmal hautnah das einfache Leben und die bescheidenen Madagassen erleben dürfen.
Und schliesslich stehen wir wieder am Flughafen in Tana. Trotz Mora-Mora ging die Zeit viel zu schnell vorbei und der Abschied fällt nicht leicht. Wir hätten uns keine perfektere Pionierreisegruppe für unsere Westküstenreise wünschen können. Regine, Silvia und Heinz: Wir waren gerne mit euch unterwegs!
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