Kanada: Ein Griff ins Bücherregal

Seit einiger Zeit schon fühlen wir uns in der immer gleichen Geschichte gefangen. Aufstehen, frühstücken, Zelt zusammenpacken, losradeln. Dicht steht der Wald zu beiden Seiten des Trails, wir fahren durch einen dunkelgrünen Schlauch. Eine Handvoll Trockenfrüchte und einen Riegel Schokolade nach zwei Stunden Fahrzeit. Weitere zwei Stunden später ist Lunchtime. Endlich Zeit für den MP3. Also Stöpsel in die Ohren, während wir den heutigen Pass erklimmen. Einen kurzen Moment fahren wir über der Baumgrenze, sehen weit in die Ferne, bevor wir wieder ins Nadelmeer eintauchen. Laut singend diesmal, damit uns nicht plötzlich ein Grizzly unter die Räder kommt. Zvieripause. Wie findest du das Hörbuch? Mmh, etwa so spannend wie den heutigen Velotag. Wir erreichen eine kleine Stadt. Einkaufen im Supermarkt, als Belohnung für die heutige Etappe gibts einen Eisbecher, bevor wir noch ein paar Kilometer in den nächsten Wald fahren und dort erneut das Camp aufschlagen. Wieder laut lärmend, schliesslich wollen wir keinen nächtlichen Bärenbesuch im Zelt. Kochen, essen, Zähne putzen, schlafen. Das Radeln ist einfach, es warten keine Überraschungen hinter der nächsten Kurve oder dem nächsten Hügel, alles ist vorhersehbar geworden.

In Cranebrook machen wir drei Tage Pause in der Jugendherberge. "We make no plans you now"..., aber wir haben keine Lust mehr darauf zu warten, dass sich von selbst eine Tür öffnet. Manchmal muss man seine Türen auch selbst aufstossen. Und so machen wir in diesen drei Tagen Nägel mit Köpfen. Ganz ungewohnt für uns, die wir doch immer Ewigkeiten brauchen, um eine Entscheidung zu treffen. Doch wir spüren, es ist an der Zeit, ein neues Buch aus dem Regal zu ziehen. Eines, das wir noch nicht kennen, das uns wieder auf jeder Seite mit einer unerwarteten Wendung überrascht. Das Buch ist dick und schwer, ein richtiger Schmöker. In kunstvoll verschlungenen Buchstaben steht darauf: INDIEN & SÜDOSTASIEN

Von nun an sind die Tage gefüllt. Entscheidungen folgen auf Entscheidungen, das Radeln wir zur Nebensache. Wir gehen unser Material durch, ersetzen kaputte Sachen, verbessern, was noch nicht optimal ist. Den Kopf voller neuer Gedanken und Pläne fahren wir den Trans Canada Trail Richtung Vancouver - und sind positiv übberrascht. Oft folgt er alten Zugtrassen. Die Steigungen sind sanft, die Abfahrten ruhig. Wir überqueren Flüsse auf hölzernen Bahnviadukten und überwinden im Wege stehende Berge für einmal nicht an der höchsten Stelle, sondern nach einem kaum merkbaren Anstieg durch alte Tunnels. Und je weiter wir nach Westen kommen, je mehr verändert sich auch der Wald. Wir fahren an mächtigen Zedernbäumen vorbei, Farne und Moos bedecken den Boden, lange Flechten hängen von den Ästen. Es riecht nach Erde, die Luft ist sauber und frisch. Ein Fangorn wie aus dem "Herr der Ringe" - alt, sehr alt - fehlen nur noch die Baumhirten, die ihres Weges ziehen. Doch vielleicht gibt es sie ja sogar, irgendwo gut verborgen, in dieser endlosen Wildnis.

Eine Woche noch bis zu unserem Flug. Langsam macht sich ein Gefühl breit, als würden Ferien zu Ende gehen, als würde unsere Reise erneut starten. Wir verbringen die letzten Tage auf dem Amerikanischen Kontinent auf der San Juan Insel. Nachdem wir uns vom Touristenschock erholt haben, finden wir doch noch ein ruhiges Fleckchen und zelten ungestört auf einem Kiesstrand in einer kleinen Bucht. Schwemmholzberge türmen sich chaotisch um unser Zelt, gerade so als hätten Riesenkinder ihr Spiel mit Bauklötzen mittendrin unterbrochen. Wir lauschen dem gleichmässigen Atem des Pazifiks, während der Vollmond sein Silber über das dunkle Wasser giesst. Ein schwarzer Fuchs linst neugierig in unser Zelt und draussen vor der Küste hört man die Orcas blasen. Ein Traumplatz. Hier nehmen wir Abschied von Amerika und versuchen uns mental auf den krassen Kulturwechsel vorzubereiten, der uns bevorsteht.

Das Kreischen der Möwen weckt uns am Morgen. Es ist Ebbe. Nebel verwischt die Konturen, taucht Felsen und Strand in ein monochromes Stilleben. Das Meer ist weit zurückgewichen und hat einen reich gedeckten Tisch hinterlassen. Seetang, Krebse, Muscheln. Wir laufen den Strand entlang und lassen die letzten Monate an uns vorbeiziehen.

Es war interessant, die USA und ein Stück Kanadas zu erleben. Die Amerikaner waren herzlich und unkompliziert. Ihre Offenheit und Gastfreundschaft hat uns erstaunt und wir sind dankbar für die vielen wunderbaren Begegnungen. Doch hat uns im Buch NORDAMERIKA auch etwas die Spannung gefehlt, das Abenteuer und die kulturelle Herausforderung. Und so stellen wir diesen Band unserer Reise nach sechs Monaten und siebeneinhalbtausend Kilometern zurück ins Regal und heben mit einem Kribbeln im Bauch den Deckel unseres neuen Wälzers. 1. Kapitel: Ladakh und Zanskar. Bunte Gebetsfähnchen, die im Wind flattern, vergletscherte Bergketten, wilde Fünf- und Sechstausender; Himalaya, mystisches Dach der Welt.

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