Arunachal Pradesh: Gegenwart

"Wir leben in der Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft kümmern uns nicht." Paplav überreicht uns gewürzten Milchtee. Er ist Lehrer in Seppa und hat uns zu sich eingeladen. "Ich gehöre zu den Nyishi, der grössten kulturellen Gruppe Arunachal Pradeshs. Unsere Leute leben nur in der Gegenwart, im Moment. Darum bin ich so glücklich, dass ihr nun mit mir zusammen Tee trinkt. Dass ihr den Weg in mein Haus gefunden habt, ihr, die ihr von so weit hergereist seid."

Es scheint, als lägen in Arunachal Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht hinter-, sondern nebeneinander. Wie auf einer mehrspurigen Strasse kann ein Besucher zwischen den Zeiten wechseln und so gleichzeitig in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft unterwegs sein. Wer hier wohnt, hat sich an diese Mehrspurigkeit gewöhnt. Wie ein Vielfahrer merkt er kaum noch, wenn er die Spuren wechselt, ja sind die Spuren selbst aufgehoben, verschmolzen zu einer einzigen Strasse, die ihn weiter führt. Für ihn gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr. Alle Zeiten sind eins. Alles ist jetzt.

Durch Arunachal wird ein Highway gebaut. Er ist breit, viel zu breit für die steilen Hänge und engen Schluchten. Zehn Bagger fressen sich durch die Berge, hinterlassen eine aufgerissene Wunde in der Landschaft, die bis zum nächsten Monsun nicht heilen wird. Der Regen wird einsetzen und die Hänge werden bluten. Schon jetzt müssen wir Erdrutsche umfahren und das Wasser in den Flüssen ist braun von der Erosion. Ein Schild steht am Strassenrand, schwarze Schrift auf gelbem Grund: "Wir verbinden Menschen mit dem Mainstream". Die Strasse wird schneller sein, gerader, moderner. Sie bringt die Zukunft. Und dann, als hätte jemand ein Bild in Photoshop falsch zusammengesetzt, endet die Baustelle, rückt das Dickicht um uns näher, holpern wir mit unseren Fahrrädern auf einer sich windenden, schmalen und löchrigen kleinen Dschungelstrasse weiter durch das Tal. Wir haben die Spur gewechselt. Wir radeln in der Vergangenheit.

Dunkelblau senkt sich der Abend über die tiefen Täler und grün bewaldeten Hügel. Letztes Licht bricht durch das Geäst um uns, aufgewirbelter Staub eines vorbeifahrenden Autos zeichnet Sonnenstrahlen in die Schatten. Nur noch wenige Minuten, dann wird die Umgebung ihre Konturen an die Nacht verlieren. Eine kurze Dämmerung, typisch für dieses Breitengrad. Höchste Zeit einen Schlafplatz zu finden. Und wie immer kommt er, wenn wir ihn brauchen. Ein paar Bambushütten auf Stelzen und ein längliches Betongebäude mit einer Horde Kinder und ein paar Erwachsenen auf dem trockenen Vorplatz. Eine Schule? Das wäre ideal. Wir rollen auf die Erwachsenen zu, die uns überrascht begrüssen.

Touristen sind immer noch ein seltener Anblick im nordöstlichsten Bundesstaat Indiens. Und dann noch solche auf dem Fahrrad! Der Aufwand eines Spezialpermits, fast keine Infrastruktur und wenig Informationen machen Arunachal Pradesh zu einem weissen Fleck auf der touristischen Landkarte. Hier erleben wir, wie sich das Reisen vor fünfzig Jahren angefühlt haben muss. Wir machen den Schulvorsteher aus und erhalten rasch die Erlaubnis, in dem kleinen Klassenzimmer zu zelten. Die Schule ist eine Boarding school, eine Art Internat, wo die Kinder zwischen vier und zehn Jahren, Mädchen und Jungen getrennt, in einem Langhaus am Boden schlafen und nur einmal im Monat übers Wochenende mit einem mehrstündigen Fussmarsch in die kleinen Bergdörfer und zu ihren Familien zurückkehren. Hunderte von Augen folgen uns beim Aufstellen des Zeltes. Die Gesichter haben so gar nichts mehr mit den Indischen gemeinsam. Hohe Wangenknochen, Mandelaugen, dunkle, glatte Haare, olivebraune Haut. Dschungelgesichter. Gesichter des Nyishi Stammes.

In Arunachal leben sechsundzwanzig verschiedene Volksgruppen. Ihre Sprachen, ihre Traditionen, ja selbst ihre Bambushäuser unterscheiden sich von Stamm zu Stamm grundsätzlich. Sie sind eindrücklich, diese Menschen, die seit Jahrhunderten im und von diesem Dschungel gelebt haben. Doch die Begegnungen mit älteren Leuten, die noch die traditionellen Trachten und den ursprünglichen Kopfschmuck tragen, oder wie die Atapani Frauen Zeichen ihrer Stammeszugehörigkeit ins Gesicht tätowiert haben, sind selten. Im Alltag gleicht sich eine junge Generation Arunachal Pradeshs immer mehr dem "Mainstream" an, versucht dazu zu gehören und hineinzupassen ins Bild des modernen Menschen. Und so kommt es auch hier, dass sich die Zeiten vermischen, dass sich Jugendliche am Republic Day in Militärleggins stürzen und gleichzeitig den Schmuck ihrer Grossmutter umhängen. Dass sie mit Eyeliner die alten Tätowierungen ihrer Vorfahren auf Nase und Kinn zeichnen, aber anstelle von traditionellen Schritten neue Kreationen zu Bollywood Musik tanzen. So ist Arunachals Gegenwart. Gefangen zwischen Tradition und Moderne. Was überwiegt, wenn die Zeit weiter fliesst? Was wird neu geschaffen und was geht verloren?

In Sagalee fragen wir in der Don Bosco Mission nach einem Schlafplatz. Eine Gruppe Jungs spielt Fussball vor dem Schultrakt. Als sie uns erspähen, lassen sie ihren Ball links liegen und rennen zum Tor. Wenige Meter vor uns verlangsamen sie jedoch ihr Tempo und begrüssen uns höflich und gut erzogen. Einer der Jungen holt den Priester. Ein dunkelhäutiger Mann mit unübersehbar südindischem Einschlag. Er bietet uns eines der Gästezimmer an. Es ist blitzsauber, hat zwei Betten und ein eigenes Bad mit heissem Wasser. Wir geniessen es. Beim Nachtessen erzählen uns die Glaubensbrüder stolz die Erfolgsgeschichte der katholischen Mission. Steigende Schülerzahlen, neue Kirchen in abgelegenen Dschungeldörfern, neue Schuleröffnungen in den Hauptorten.

In den nächsten Tagen erleben wir mehrmals, wie neu bekehrte Christen die Nase über die alten Vorstellungen rümpfen und sich wegen der Traditionen ihrer Vorväter schämen. "Wir gehören jetzt zur hellen Seite der Welt und haben die Dunkelheit hinter uns gelassen", meint ein junger Mann auf der Strasse zu uns. Missionsarbeit ist für uns schwierig zu beurteilen. Wir verstehen, dass sich die Menschen nach mehr Bildung, besserer Krankenversorgung, einer faireren Chance in der Welt sehnen und dass die Kirche und vor allem ihre modernen (zumindest im Vergleich zu den öffentlichen) Schulen einen Weg dahin bieten. Doch muss diese Entwicklung wirklich auf Kosten uralter Traditionen und Lebensweisen geschehen? Muss dabei wirklich die Völkeridentität ausgelöscht und durch westlich interpretierte Bibelgeschichten und Kirchenlieder ersetzt werden? Schön, hängen Sterne an den Giebeln der Häuser und nicht Kreuze. Sie passen zu den Sonnenflaggen des alten Glaubens, welche zum Teil noch an den Häusern flattern. Die Sonne, der Ursprung allen Lebens. Und die Sterne, das abgewandelte Symbol des Christentums. Auch das ein Versuch, Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart zu vereinen?

Das Feuer prasselt, weckt Geister aus Licht und Schatten an den geflochtenen Wänden der Bambusküche, in der wir sitzen. Wir sind bei der Familie von John Taniang zum Nachtessen eingeladen. Es gibt Reis mit scharfem Bambus Chutney, gekochte Bananenblüten, Wasserspinat und Paneer Curry - ein Festmahl. Diesen Abend, das Lachen um uns, die tanzenden Flammen und das gemütliche Zusammensein an einem so fremden Ort möchten wir festhalten. Sobald wir die Kameras hervorholen, werden auch auf der Gegenseite Handys gezückt. Natürlich, trotz allem, wir sind ja immer noch in Indien. Wir sind Teil einer modernen Welt, Teil des "Mainstreams". Doch noch im selben Atemzug, in dem sich die Zeugen der Gegenwart unter uns gemischt haben, wollen unsere Gastgeber, dass wir ihnen ein typisches Lied von unserem Land vorsingen. Ein traditionelles Lied. Wir brauchen Bedenkzeit. Und in diese Stille hinein beginnt John's Vater selbst zu singen. Eine alte Melodie seines Volkes. Zuerst etwas wackelig und unsicher, begleitet von den befremdeten Blicken seiner Söhne. Dann voller und klarer: Eine Geschichte von einem Schmetterling, der eine duftende Blume findet, sich darauf niederlässt und von der Süsse und der Schönheit dieser Blume in den Bann gezogen wird. Er vergisst dabei, was um ihn geschieht, kümmert sich nicht mehr darum, was vor dem Landen auf der Blüte war und was vielleicht danach sein wird, gibt sich nur noch dem Augenblick hin, der Gegenwart.

Wir fühlen uns den Nyishi verbunden, denn wir hängen momentan weder unserer Vergangenheit nach, noch kümmern wir uns um unsere Zukunft. Vor nicht allzu langer Zeit hat uns jemand gefragt, wann wir denn zurück in die Schweiz kommen würden, und ob wir mit dem ruhelosen Unterwegssein nicht unsere Lebensperspektive verlieren würden. Wir glauben das nicht. Jeder Tag unserer Reise ist eine Bereicherung, öffnet uns neue Sichtweisen auf unsere Welt. Wir haben gelernt im Moment, in der Gegenwart zu leben und wir lieben es. Denn die Gegenwart ist das Leben selbst.

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