Achzig Kilogramm hat die Gepaeckwaage am Ende angezeigt. Wir haben selber gestaunt. Nun ist alles unter Dach und Fach. Die vollstaendig zerlegten Velos versperren den hinteren Coupetteil. Zwei Naechte und ein Tag in der Turksibirischen Eisenbahn stehen uns bevor, quer durch die kasachische Steppe, hinein in den russischen Winter.
Es ist Nacht. Das Fahrwerk klopft, ruettelt Erinnerungen wach: Ferien in Suedfrankreich, die Anreise per Nachtzug. Unsere Familie besetzt ein Sechserabteil. Das unterste Bett ist heruntergeklappt, Platz fuer den Veloanhaenger mit Gepaeck. Im obersten Bett staut sich die Hitze, die Klimaanlage funktioniert nicht. Manchmal bremst der Wagon, flattert ueber Weichen, bleibt quitschend stehen. Bahnhoflichter: Lion, Avignon? Eine Lautsprecherdurchsage, die Lock beschleunigt, faehrt weiter durch die Nacht. Das Fahrwerk klopft. Aufstehen um drei, alle sind nervoes, der Zug haelt nicht lange. Das erste Mal die franzoesische Luft einatmen, ein kleines Abenteuer. Der Wind ist waermer als zu Hause, noch riecht es nach Eisen von den Schienen, aber da ist auch etwas Unbekanntes, Neues. Warten am Bahnhof bis zum Morgen, Vorfreude. Einmal hat ein Wagenfuehrer vergessen unsere Familie rechtzeitig zu wecken. Das sonst schon nervoese Aussteigen mit Kind und Kegel wurde hektisch. Auch jetzt reisen wir mit viel Gepaeck - die Ankunft koennte stressig werden. Wir traeumen beide von Velos, die in der Tuere des anfahrenden Zuges festklemmen, waehrend das eine schon draussen ist und das andere noch drin...
Jemand poltert an die Tuer. Es ist morgens um acht. Der Zug haelt irgendwo an einem kasachischen Steppenbahnhof. Ein wichtiger Polizist kontrolliert alle Paesse. Auf dem Nebengeleis steht ein Gueterzug voller Holz und Steinkohle. Sibirien rueckt naeher. Dann erneut Weite. Waeren wir diese Strecke mit dem Velo gefahren, wenn uns nicht der kommende Winter im Nacken sitzen wuerde? Haetten wir den argentinischen Pampakoller ueberwinden koennen, der uns seit Suedamerika von solchen Strecken abhaelt?
Am zweiten Abend aendert die Landschaft. Dichte Fichtenwaelder beidseits der Gleise. Die russische Grenze. Im Abteil werden alle Gepaeckfaecher durchsucht. Die Lampenabdeckung wird heruntergeschraubt. Hunde hecheln durch die Wagen. Wir sitzen fuenf Stunden fest. Willkommen in Russland.
In Barnaul ist es null grad. Kurz nach unserer Ankunft beginnt es zu schneien. Die Leninstatue traegt einen weissen Schal. In manchen Parks brennt ein Gasfeuer. Wir decken uns mit Fellmuetzen und Handschuhen ein, radeln hinaus ins Schneegestoeber. Die Leute schuetteln die Koepfe.
Die Strasse vereist. Die Daemmerung setzt schon um fuenf ein. Ein Russe im Schneepflug haelt an, sagt uns, dass es bis zum naechsten Strassenkaffee nicht mehr weit sei, meint, dass wir dort uebernachten koennen. Es ist dunkel, als wir dort ankommen. Wir kriegen keinen Platz. Der Kaffeebesitzer zuckt mit den Schultern. Was gehen ihn die zwei Wahnsinnigen mit ihren Velos an? Wir stellen unser Zelt zwei Meter neben der Tuere zum Kaffee auf. Nur der Wachmann macht sich Sorgen.
In dieser Nacht schneit es einen halben Meter. Am naechsten Morgen sind die Strassen spiegelblank und fuer uns nicht mehr zu fahren. Wir stoppen den naechsten Bus. Ohne Spikes koennen wir nicht weiter. Ein DHL Express Paket aus der Schweiz soll uns retten. Dieses bleibt aber in der russischen Buerokratie haengen, schafft seinen Weg nur bis Barnaul. Am Ende muessen wir den Expressdienst selber zu Ende fuehren. 500 Kilometer im Bus.
Nach dem ersten Pass kommt die Kaelte. Das Quecksilber sackt auf minus dreissig Grad. Wir kommen nur noch langsam vorwaerts. Nach fuenfzig Kilometern ist die Energie weg. Wo moeglich versuchen wir nun an einem waermenden Herd zu uebernachten. Trotzdem kommen wir ums Zelten nicht herum. Wir lernen rasch. Einen Aluminiumtopfgriff ohne Handschuhe anfassen - verheerend. Das Fahrrad am Abend in einem zu grossen Gang abstellen - dumm. Zeltnaegel koennen zwar vielleicht in den gefrorenen Boden gehaemmert werden, brechen dann aber am Morgen wie ein Grissini. Der Trick mit der Spucke gegen anlaufende Brillenglaeser funktioniert nicht mehr, die Spucke gefriert noch vor dem Abwischen zusammen mit dem Beschlag. Wurst und Kaese schneidet man besser schon im Laden klein. Ein Schaltkabel zersplittert ploetzlich wie Glas und wir sind etwas schockiert, als wir am Abend die 500 Gramm Pasta noch mit zwei Tafeln Schokolade strecken, um doch in der Nacht mit knurrendem Magen zu erwachen.
Und dann kommt der Wind. Er weht Schneefahnen auf, fegt uns vom Rad. Wir schaetzen den Windchill auf minus fuenfzig, Finger werden taub und das Gesicht brennt. Wir haben Angst vor Erfrierungen, beginnen zu schieben, um vorwaerts zu kommen und warm zu bleiben.
Das naechste Dorf liegt noch 30 Kilometer entfernt, eine weitere Nacht im Zelt kommt fuer uns nicht in Frage. Wir halten den Daumen raus, die meisten Lastwagen sind zu voll, die wenigen, die anhalten, wollen uns nicht mitnehmen.
Zehn Kilometer legen wir zu Fuss zurueck. Wir wollen unbedingt ein Haus erreichen, werden aber immer langsamer, sind fix und fertig. Ein weisser Jeep ueberholt uns. Wir winken, rechnen schon lange nicht mehr mit einer Mitnahme. Der Fahrer stoppt, fragt, ob es uns gut gehe.
Wir duerfen aufladen.
Kaelte ist aber auch schoen. Hast du schon einmal zugeschaut, wie ein Fluss gefriert? Zuerst beginnt er zu dampfen, verlockend wie ein heisses Bad, huellt die Umgebung in weissen Dunst. Dann flockt das Wasser: Kleine Eisschollen treiben in der Stroemung, brechen ihre haarfeinen Raender an den Steinen, zischen, knirschen, brodeln. Wenn man nun am Abend Wasser schoepft, taucht man die Pfanne in eine zaehfluessige Masse, die sofort gefriert. Zuletzt setzt sich das Eis am Ufer fest, wirft Wellen und Falten, ein erstarrender Lavastrom. Der Fluss schlaeft ein.
Die Doerfer werden seltener. Keine Kaffees mehr am Mittag zum Aufwaermen.
Wenn uns jetzt Lastwagenfahrer entgegenkommen, zeigen sie uns den Vogel. Wir werfen ihnen Kusshaende zu. Sie koennen nicht wissen, wie magisch es ist, durch diese stille, tief verschneite Landschaft zu radeln. Zuerst sind es noch dichte Waelder, dann werden die Baeume spaerlicher, die Berge flacher.
Die Leute tragen wieder typisch zentralasiatische Zuege. In diesem Vierlaendereck leben vor allem Kasachen. Sie kamen vor der heutigen Grenzziehung hierher, um ihr Vieh auf den Sommerwiesen im Altaigebirge zu weiden. Die Grenzziehung nach der mongolischen Revolution von 1921 hat diese Wanderbewegung unterbunden und die Kasachen siedelten sich im russischen und mongolischen Altai an. Heute steht es ihnen frei, in ihr Heimatland zurueckzukehren. Doch fuer viele ist hier ihr Zuhause. Vor allem die mongolischen Kasachen pflegen stolz ihre Braeuche. Wenn man jemanden in Kasachstan fragt, wo man noch echte kasachische Kultur finden kann, dann wird oft dieses Grenzland zwischen Russland, China und der Mongolei erwaehnt.
Im letzten russischen Dorf finden wir Unterschlupf in einem einfachen Haus. Das Feuer im Ofen brennt, es ist warm und wir schauen uns Videoclips an. Kasachischer Schlager, gefilmt wurde in Lauterbrunnen vor dem Staubbachfall. Eine gelbe Telecom Kabine mit einem Zirkus Harlekin Plakat an der Tuer - etwas laenger her. Haendchenhalten vor weissen Siloballen - idyllisch. Wenn der Hausbesitzer nur nicht so viel Vodka gekippt haette. Seine Frau hat gerade einen Sohn bekommen, ein Grund zum Feiern. Um elf kommt der Mann nach Hause, die naechste Stunde wird etwas anstrengend. Er hat irgendwann an der russisch - deutschen Front gedient. Ein toller Wortschatz: Haende hoch, nicht schiessen, wo ist Feind... Alles endet mit einem herzzerreissenden Ruf zu Allah. Gute Nacht.
Das Licht in der Mongolei ist waermer. Vielleicht liegt es am Winter - die Sonne steht flach, wirft goldene Strahlen. Ein ewiger Sonnenuntergang. Rote Felsen zeichnen lange Schatten auf den seidenmatten Schnee. Ein Mann steht im Gegenlicht, sein Arm ist angewinkelt, darauf die Silhouette eines Adlers: Scharfe Kanten, feine Federn. Es ist Arianit, ein Adlerjaeger. Um ihn zu finden, sind wir zweihundert Kilometer in den Nordosten der Provinz Bayan Olgii gefahren. Arianit ist Kasache, der Ursprung seines Wissens im Umgang mit den Adlern liegt 2000 Jahre zurueck. Damals ging es um das kostbare Fell der gejagten Tiere. Und heute? Irgendwie hatten wir ein dramatisches Spektakel erwartet. Vielleicht schon etwas zu touristisch, vor allem auf Action angelegt. Rauschende Federn, stiebender Schnee, ein Kampf um Leben und Tod. Doch mit Arianit unterwegs zu sein ist anders.
Ihm geht es auch heute noch vor allem darum, seine kasachische Tradition zu bewahren. In seinem Haus steht kein Fernseher. Auch das koennte fuer die Touristen inszeniert worden sein. Wenn wir aber den Mann mit seinem Tier nach einem langen Ritt nun auf dem Felsen sitzen sehen, die ruhende Kraft zwischen ihm und seinem Begleiter spueren, glauben wir nicht daran. Eine Touristenshow waere oberflaechlicher, mehr den Unmstaenden unserer schnelllebigen Gesellschaft angepasst. Viele wuerden sich nicht mit der Spannung zufrieden geben, moechten mehr sehen. Sie wuerden den Moment verpassen, in dem das Standbild ploetzlich eine feine Bewegung vollfuehrt, der Mann sein Profil dem Vogel zudreht, ihre Blicke sich kreuzen, einander festhalten. Ein schwarzer Scherenschnitt am weissen Himmel, eine unzertrennliche Form. Ein Fabelwesen, halb Mensch, halb Tier. Sie waeren enttaeuscht, weil der Adler am Ende den Fuchs nicht zerfleischte, sie ihre Gewissensbisse nicht mit einem Adrenalinstrom wegspuehlen koennten, fuer immer die Fussfesseln des Adlers und nicht die Beziehung sehen wuerden, welche das Tier an seinen Jaeger bindet.
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