...die Zeit plötzlich nicht mehr in Stunden, Minuten und Sekunden gemessen würde, sondern in der Distanz, die man zurücklegt, am Weg, den man jeden Tag geht? Manche würden sofort in einen Zug einsteigen und zum nächsten Wochenende fahren. Dort würden sie sich dann möglichst nicht mehr bewegen, damit es nie Montag würde. Und manche würden ihren Job künden, denn Fernfahrer, Stewardessen und Kuriere hätten wohl kaum Lust, für andere vorschnell zu altern. Wir würden weiter mit dem Fahrrad um die Welt fahren und die Veränderung kaum bemerken. Schon lange sind wir in unserer eigenen Zeitzone unterwegs, zählen nicht mehr Tage und Nächte, wissen kaum, welcher Wochentag oder welches Datum gerade ansteht. Vielmehr ist es das stetige Vorwärtskommen, der Wechsel von Landschaften und Begegnungen, der Rhythmus von Fahrradetappen und Pausentagen, an denen wir nun unsere Zeit ablesen.
Von Cairo fahren wir hinaus in die westlichen Saharasenken Ägyptens, die schwarze und die weisse Wüste, welche dieses Jahr erstmals seit langem nicht mehr unter den Reisewarnungen des EDA gelistet werden. Auch die Schweizer Vertretung in Cairo hat uns bestätigt, dass wir auf der Hauptstrasse über die Oasendörfer Farafra, Dakhla und Khargas zur Zeit ohne Sicherheitsbedenken unterwegs sein können. Falls uns das Militär denn nicht aufhält. Doch anders als im Niltal, in dem eine dauernde Polizeieskorte für Touristen immer noch Pflicht ist, werden wir an den Checkpoints freundlich durchgewunken.
Anfangs übernachten wir bei Sanitätsposten, die es auf dieser Strecke alle fünfzig bis sechzig Kilometer hat, doch bald fühlen wir uns so sicher, dass wir auch wieder in der Wüste zelten. Wieder erleben wir mondhelle Nächte, stellen mit Erstaunen fest, dass seit dem Oman bereits ein weiterer Monat vergangen ist. Die Wüste hier ist faszinierend, Sandfelder werden von versteinerten Muschelbänken durchzogen, Kalksteinfelsen ragen wie Korallenriffs aus dem Dünenmeer. Mehrmals halten Autofahrer an, beschenken uns mit Brot und Wasser, heissen uns willkommen und zeigen ihre Freude, uns als Touristen in ihrem Land zu sehen.
Was wäre, wenn der arabische Frühling in Ägypten nie stattgefunden hätte? Präsident Mubarak wäre wohl noch immer an der Macht. Manche fänden sich gerade jetzt zu Demonstrationen auf dem Tahrir Platz zusammen, eine brodelnde Menge, die für eine bessere Zukunft kämpft. Und manche würden hoffen, dass alles beim Alten bliebe, weil sie wüssten, dass mit der Revolution auch der Tourismus einbräche. Wir würden durch das Land reisen, glückliche und unglückliche Gesichter sehen, aber sicher nicht diese Hoffnungslosigkeit, welche Ägypten nun durchzieht.
In Luxor kommen wir im Nil Valley Hotel unter. Es gehört Hamada, einem Ägypter, der lange Zeit in der Schweiz gearbeitet hat und der uns in der Touristenflaute einen Freundschaftspreis anbietet. Zusammen mit seiner holländischen Frau hat er hier an der Westbank des Nils ein kleines Paradies aufgebaut. Drei Jahre lang war sein Hotel in der Hauptsaison jeweils bis zum letzten Bett ausgebucht, nun steht es leer. Wie alle ist er das Opfer der politischen Unruhen und der Berichterstattung darüber geworden. „Ich verstehe das nicht“, meint Hamada bei einem Nachtessen auf der Dachterrasse, von der man weit über den Nil blicken kann, „dabei gibt es Direktflüge von der Schweiz nach Luxor, niemand braucht einen Fuss nach Cairo zu setzen. In Luxor war es immer ruhig, von Reisen hierher wurde das letzte Mal vor siebzehn Jahren gewarnt, als es den Anschlag auf den Tempel gab.“ Doch die Bilder des Umsturzes sitzen feuerfest in den Köpfen der westlichen Welt. Fünfzig Hotelschiffe verrotten nun langsam auf dem Nil, Kutscher, Fremdenführer und Bootsbesitzer sind arbeitslos. Hamada schaut uns an: „Ich habe immer noch Geld, ich esse an einem grossen Tisch, mit meinen Brüdern und Schwestern und deren Familien zusammen. Doch vielen geht es nun wirklich schlecht.“
Am Abend darauf steigen wir zum Fähranleger hinunter. Wir wollen ans Ostufer und dort dann mit dem Zug nach Cairo, um unsere neuen Pässe abzuholen. Langsam füllt sich das Boot mit Passagieren. Einige Meter entfernt steht ein Reiher auf der Reling eines Motorkutters, wartet auf einen Fisch. Es ist klar, dass er leer ausgehen wird, denn er müsste sich wie ein Eisvogel auf seine Beute stürzen, sobald sie auftaucht. Doch das wird ihm niemals gelingen, denn Reiher fischen für gewöhnlich im flachen Wasser stehend, ohne Sturzflüge.
Während wir gespannt auf das Missgeschick warten und den Vogel im Stillen für seine Dummheit verspotten, setzt sich ein Ägypter neben uns auf die Bank. Er will wissen, woher wir kommen, ob uns das Land gefällt. Wir unterhalten uns eine Weile, erfahren, dass er am Westufer des Nils wohnt und eine sechsköpfige Familie hat. Nun will er wie wir ans Ostufer rüber, einkaufen gehen, und ja, er werde dort auch auf Touristen warten, die vielleicht mit dem Abendzug ankommen. Taxichauffeur sei er, und er warte jeden Abend am Bahnhof, obwohl meistens keine Touristen aus dem Zug aussteigen würden. Wir wollen wissen, wie viel er denn für eine Fahrt mit uns ins Tal der Könige verlangen würde. Er nennt uns seinen Preis, zu viel für unser Budget. Das Gespräch versiegt. Die Fähre ist voll und die Taue werden losgemacht. Wir schauen uns nach dem Reiher um. Aufgeregt läuft er plötzlich auf dem Bootsrand hin- und her und stürzt sich dann kopfüber in den Nil. Seine Flügel kommen vor dem Schnabel auf dem Wasser auf, die perfekte Bruchlandung. Der Fisch ist weg. Doch anstatt fortzufliegen, sehen wir nun mit Erstaunen, wie der Vogel zielstrebig wieder auf seinem Platz landet, bereit für einen weiteren, aussichtslosen Fangversuch. Es herrscht Trockenzeit, kein flaches Wasser zum Fischen weit und breit. Tuckernd überquert die Fähre den Nil. Zusammen mit dem Taxichauffeur laufen wir zum Bahnhof. Dort hat er geparkt. Und während wir aufs Perron gehen, steigt er in seinen Wagen und beginnt zu warten. Wie jeden Abend.
Was wäre, wenn die Reisehungrigen in der Welt wüssten, dass nach dem blutigen Militärputsch vom letzten Jahr Ägypten zumindest vorläufig etwas zur Ruhe gekommen ist? Manche würden in den nächsten Ferien ihre Koffer packen und wieder ans Rote Meer oder zu den Pyramiden fliegen. Und manche würden trotzdem zu Hause bleiben, weil sie Angst hätten, dass es jederzeit wieder zu Gewaltwellen kommen könnte. Wir hätten die Pharaonengräber mit vielen anderen Schaulustigen teilen müssen, mehr für unser Hotel bezahlt und weniger Ruhe gehabt. Aber dennoch wünschen wir den Menschen hier, dass wieder bessere Zeiten für sie anbrächen.
Von Luxor nach Assuan radeln wir nun ein kurzes Stück durchs Niltal. Wir haben uns für die Nebenstrasse auf der Westseite entschieden. Wohl eine schlechte Wahl. Es hat weniger Polizeipräsenz und die Siedlungen wirken ärmer. Kaum dreissig Kilometer sind wir gefahren, als zwei jugendliche Tuck Tuck Fahrer Brigitte an den Strassenrand drücken. Und dann ist da plötzlich ein Messer und die Forderung nach „money and mobile phone“. Wir haben Glück, dass die Jungs und auch wir nicht so recht wissen, wie sowas richtig geht und ehe Schlimmeres passiert, eilt uns auch schon ein Dorfbewohner mit einer Eisenstange zu Hilfe und schlägt das Überfallkommando in die Flucht. Der Schreck sitzt uns in den Knochen und bis wir wieder auf die Ostseite des Nils wechseln können, fahren wir unter Polizeischutz. Als wir dort ankommen, haben sich unsere Nerven wieder beruhigt. Uns ist nichts passiert und im Nachhinein müssen wir uns eingestehen, dass wir auch am Bahnhof in Bern jeden Tag in eine solche Situation geraten könnten. Nur dass uns dort wohl kein Passant mit einer Eisenstange zu Hilfe käme.
In Assuan besteigen wir ein Schiff, das uns in den nächsten achtzehn Stunden über den Nasser Stausee in den Sudan bringt. Obwohl es mittlerweile eine Strasse zwischen Ägypten und dem Sudan gibt, ist die Bootsfahrt immer noch der sicherste Weg für Velofahrer, um hier die Grenze zu überqueren. Wir fahren zweite Klasse, richten uns auf dem Deck mit Kocher und Campingmatte für die Nacht ein, zusammen mit einer Gruppe libyscher Flüchtlinge und sudanesischer Händler, die Waschmaschinen und andere Waren in den unter Sanktionen stehenden Sudan bringen. Die Leute sind höflich, begegnen uns mit Zurückhaltung, sind aber auch interessiert an unserer Geschichte und fragen nach dem Woher und Wohin. Gross und rot badet die Sonne im weiten Wasser des Nasser. Wie ein Meer scheint nun der uferlose See und vom Bootsmast schallt der Ruf des Muezzins übers Deck. Die Männer versammeln sich an der östlichen Reling zum Gebet. Nach einem leisen „Allahhu akbar“ knien sie dicht an dicht nieder und zusammen mit der Dämmerung legt sich eine berührende Ruhe über das Schiff. Langsam tuckern wir in die Nacht und in ein neues Land.
Was wäre, wenn wir vermehrt unsere Türen für Durchreisende öffnen würden? Manche würden sich rasch in ihren vier Wänden bedroht fühlen, hätten mehr Angst, etwas zu verlieren, als durch die Begegnung mit dem Fremden etwas zu gewinnen. Und manche würden sich über den Besuch freuen, sie würden sich weniger einsam fühlen und gespannt den Geschichten zuhören, welche sie nun nicht mehr am Fernseher, sondern in ihrer Stube erzählt bekämen. Wir wären stolz auf eine solche Welt.
Vom Sudan an radeln wir zu dritt weiter, zusammen mit Russell, einem Engländer, den wir auf dem Schiff kennengelernt haben. Von Norden nach Süden bläst ein konstanter Rückenwind und wir kommen rasch vorwärts. Die Strecke ist gut versorgt mit Cafeterias und dort finden wir auch Wasser, das direkt aus dem Nil geschöpft in grossen Tonkrügen kühl gehalten wird. Über Nacht campieren wir nochmals abseits der Strasse, in den Dünen. Es sind die letzten Campingnächte in der Einsamkeit für lange Zeit, denn nach der Hauptstadt Khartoum geht es für uns durchs Niltal und da ist es mit der Ruhe vorbei. Es hat überall Leute, und wir suchen uns jeweils einen sicheren Platz bei Polizeiposten oder Schulen. Einmal werden wir in einem Dorf von einer Familie in ihr Haus eingeladen: „This night you are our guests“. So oft ist uns dies nun in der islamischen Welt schon passiert. Wir sind Fremde, gehören nicht derselben Religion an, stammen aus Ländern, die ihren Glauben, ihre Politik und oft auch ihre Kultur negativ bewerten und verurteilen. Trotzdem werden wir weiter als Freunde behandelt, wird uns vorbehaltlos ein Bett angeboten oder geholfen. Obwohl Ansichten und Regeln des Korans das Denken und Handeln hier bestimmen, ist doch der Alltag der meisten Menschen weit entfernt von den extremistischen Ansichten, über die unsere Nachrichten so gerne und so häufig berichten.
Zwei Wochen nachdem wir in den Sudan eingereist sind, haben wir das Land bereits durchquert. Die Landschaft ist hügeliger geworden, knochentrockenes Buschland hat die Wüste und das grüne Niltal abgelöst. Menschen tauchen nun scheinbar aus dem Nichts auf und fragen nach Wasser. Die Hitze, welche wir in Ägypten für kurze Zeit hinter uns gelassen hatten, ist zurückgekehrt und zehrt von Tag zu Tag mehr an unseren Kräften.
Kurz vor der Sudanesisch- Äthiopischen Grenze suchen wir an einem Mittag Schutz im Schatten eines Truckstopps, kippen kühle Softdrinks hinunter und essen unser letztes Fuul, das typisch sudanesische Bohnenmus mit Brot. Ein Mann schaut uns zu, er will wissen, woher wir kommen und dann: „How is Sudan?“ Wir erzählen ihm, wie respektvoll uns die Menschen begegnet sind, wie still und klar die Nächte in der Wüste waren und wie wir uns sicher und willkommen fühlten. Er strahlt übers ganze Gesicht. Uns kommt eine Reportage von Michael Obert über das Land in den Sinn. Auch er hatte eine ähnliche Begegnung und sein Gegenüber verabschiedete sich mit den Worten: „Please tell all your friends, that Sudanese people are not terrorists.“
Was wäre, wenn man das strahlende Gesicht des Mannes zusammen mit diesem Zitat an den Anfang der Tagesschau stellen würde? Manche brächen in Panik aus, würden sofort an einen terroristischen Anschlag auf unser Nachrichtensystem denken, die Helpline von SRF mit Fragen bestürmen oder einen Gegenangriff planen. Und manche würden sich wundern, was das nun soll, würden auf weitere Erklärungen in den Nachrichten warten, die nicht kämen. Wir würden uns darüber freuen, denn wir täten es, wenn wir könnten.
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