Verliebt in Nordostindien

Indien haben wir in all unseren Reiseplänen nie ernsthaft in Betracht gezogen. Um ehrlich zu sein, wir haben es sogar ignoriert. Zu gut erinnern wir uns noch an den österreichischen Radler, den wir vor rund zehn Jahren auf dem Manali - Leh Highway getroffen haben. "Flachlandindien mit em Radl? Vergesst des!" Mit eingefallenen Wangen und erschöpften Augen, fasste er seine dreimonatige Tour zusammen: "Auf den Strassen bisch ds Lebens ned sicher, ds Essen isch viel z' scharf, die Hotels sind Drecklöcher und stendig hesch di Scheisserei." Weshalb also hätten wir Indien unsere Aufmerksamkeit schenken sollen? Doch seit ein paar Wochen sind wir nun wider aller Vernunft hier. Während den vergangenen Jahren unterwegs haben wir nämlich gelernt, dass Fremdurteile oft relativ sind: Eine Momentaufnahme einer einzigen Person, ein Spiegel seiner Stimmung, seiner persönlichen Vorlieben und seiner Einstellung. Wir haben gelernt, dass sich manchmal hinter hässlichen Entlein Schwäne verstecken. Dass jeder eine Chance verdient und dass unsere schönsten Erinnerungen, unsere Liebe zu einem Ort oft darin beruhen, dass wir diese Chancen zugelassen haben.

Ein hundert Kilometer breiter Streifen verbindet Mainland India mit den Seven Sisters. Die sieben Staaten werden von Mother India eher stiefmütterlich behandelt und manch ein Inder aus Dehli oder Mumbai weiss selbst nicht, dass da im Osten noch eine riesige Fläche zu ihrem Land gehört. Gemeinsam mit Jerry, einem Bikepacker aus Colorado fahren wir durch Ostbengalen, Assam, Arunachal Pradesh, Nagaland und Manipur. Wie immer, wenn jemand zu unserem eingespielten Team stösst, brauchen wir ein paar Tage, um einen gemeinsamen Nenner zu finden. Obwohl alle Langzeitradler eine Art universelle Sprache zu sprechen scheinen und wir uns daher immer rasch verstehen, braucht das gemeinsame Unterwegs sein doch mehr als das. Jerry ist Frühaufsteher, wir sind es definitiv nicht! Jerry weiss gern, was in den nächsten Stunden läuft und wo das Tagesziel liegt. Wir sind mittlerweile gewohnt, einfach in den Tag hinein zu radeln, so weit zu fahren, wie wir Lust haben und uns dann spontan nach einer Übernachtungsmöglichkeit umzusehen. Jerry ist offen, kommunikativ und ein Meister im Smalltalk. Eigenschaften, die scheinbar allen Amerikanern in die Wiege gelegt sind, und die wir bei unseren Begegnungen in den USA so schätzten. Wir sind zurückhaltender, eher Beobachter als Akteure und darauf bedacht, den Menschen Zeit zu geben, sich an uns zu gewöhnen. Ja, und wir geben es zu, die Pointen des "raffinierten" amerikanischen Humors rasen manchmal wirkungslos an uns vorbei... Doch jeder weiss, Gegensätze ziehen sich an. Und schon bald haben wir einen Rhythmus gefunden, geniessen das gemeinsame Unterwegs sein und es gelingt uns sogar manchmal, zur richtigen Zeit über einen amerikanischen Witz zu lachen.

Uns allen ist klar: Wenn unsere Indienerfahrung eine gute werden soll, dann müssen wir weg von den Highways und den grossen Städten. Für die Strecke durch Ostbengalen und Assam folgen wir deshalb kleinsten Feldwegen, die wir ohne GPS unmöglich finden würden. Wir fahren durch ländliche Dörfer, entlang grüner Teefelder und teilen uns den Weg mit einheimischen Fahrradfahrern, Handkarren und Elefanten. Lehmverputzte Bambushütten stehen im Schatten von Palmen, auf dem stets sauber gefegten Vorplatz picken ein paar Hühner nach Körnern. Frauen in bunten Saris hängen Wäsche auf, plaudern mit der Nachbarin über den Zaun hinweg oder schäkern liebevoll mit ihren Kindern auf dem Schoss. Hin und wieder endet der Weg vor einem kleinen Fluss oder Wasserkanal und wir überqueren das Hindernis vorsichtig auf einer wackligen Brücke aus Bambusstangen und geflochtenen Matten. Wasserbüffel strecken ihre feuchten Nasen in die Luft, ein weisser Reiher fliegt aus dem Schilfdickicht auf. Das Leben plätschert geruhsam und friedlich dahin und unmerklich verfallen wir dem Charme dieses Landes. Seiner Freude zum Chaos, den Gegensätzen, der Überlebenskunst seiner Bewohner, ihrer Unbekümmertheit und ihrer Liebe. Ja, vor allem ihrer Liebe.

Wenn wir irgendwo anhalten, dauert es nie lange und eine riesige Menschenmenge sammelt sich um uns. Irgendwann im Laufe der indischen Geschichte ist das Konzept der Privatsphäre flöten gegangen. Kein Wunder, bei einer Bevölkerungsdichte von 440 Menschen auf einem Quadratkilometer. Und so werden dann auch sofort Bremshebel getestet und Reifen gedrückt, folgen hundert indische Augen all unseren Bewegungen. Nichts davon ist Böse gemeint. Vielmehr passt es zu diesem Land, dieser Intensität und dem Überangebot für die Sinne. Das Essen muss brennen, die Kleider leuchten, die Musik dröhnen. Und so werden wir halt nicht angeschaut, sondern angestarrt und das Fahrrad nicht betrachtet, sondern befingert. Und bestimmt würden auch die Fragen an uns entsprechend ausfallen, wenn da nicht die Sprachbarriere dazwischen käme. Und so reichen die Kenntnisse oft nur für ein "woher, wohin, warum?" Wir halten die Antworten ebenso kurz: Europa, der nächste grössere Ort und "to see your wonderful country". Das herzliche Strahlen, das darauf folgt, trifft unsere Herzen. Oft kommen uns die Menschen wie Kinder vor. Direkt und offen in ihrer Neugier, freigebig mit ihrem Lachen und dem wenigen, was sie haben.

"No money", meint der Handyladenbesitzer, als wir ihn fragen, ob wir sein Internet benutzen dürfen und wieviel das denn pro Stunde macht. "No money", meint auch der Arzt, welcher uns auf der Strasse aufgreift, aus seiner Wohnung auszieht, um uns einen Übernachtungsplatz anzubieten, uns zum Nachtessen und Frühstück einlädt, uns SIM Karten auf dem Schwarzmarkt besorgt und das richtige Medikament auftreibt, um unseren hartnäckigen Husten zu kurieren. "Die Liebe wurde zwar nicht in Indien erfunden, doch hier wurde sie zur Vollkommenheit gebracht", hören wir an diesem Tag in unserem aktuellen Hörbuch "Shantaram". Hätten wir diesen Satz vor ein paar Monaten gehört, wir hätten den Kopf geschüttelt und verständnislos darüber gelacht, denn unser Bild von den Indern wurde durch die gutbetuchten indischen Touristen geprägt, die sich im heimischen Supermarkt oft rüpelhaft mit Ellbogen ihren Platz erkämpfen. Etwas, was in den Grossstädten und den Menschenmassen Indiens vielleicht eine Notwendigkeit ist, uns in der geordneten Schweiz jedoch rücksichtslos vorkommt. Doch die Inder hier sind anders. Einmal mehr erleben wir: Wer am wenigsten hat, gibt am freigebigsten. Und einmal mehr denken wir: Welches Bild geben wohl wir Europäer in der Welt ab?

Der blosse Gedanken, ein Selfie mit Ausländern zu snappen, verdreht jedem Inder den Kopf. Ob er bei seiner Selfieaktion aus dem Autofenster auf die Gegenfahrbahn gerät und in einen Stein knallt, oder sich die Mühe nimmt, uns dafür persönlich zu seinem Lieblingsrestaurant im Bazaar zu führen und für die Mahlzeit auch noch zu bezahlen, kümmert ihn nicht. Und so kommt das Selfie dann auch meistens vor einem Hallo. Klar machen wir mit. Die Begeisterungsfähigkeit und unbekümmerte Lebensfreude ist ansteckend. Und ein Selfie für all die Freundlichkeit, welche uns entgegen gebracht wird, ist das Mindeste was wir zurückgeben können. Doch wie in jeder Liebesbeziehung haben auch wir manchmal genug. Genug von der ununterbrochenen Aufmerksamkeit, den starrenden Augen, dem ständigen "Brother, brother, selfie, selfie!" oder dem "Sister, sister, where?" Strapazierte Nerven haben wir auch dann, wenn uns ein Motorradfahrer eine halbe Stunde lang vorausfährt, immer wieder hupt und mit fuchtelnden Handbewegungen alle auf seinen besonderen "Fund" aufmerksam macht. Oder wenn wir nur kurz nach dem Weg fragen wollten, aber erst eine Antwort erhalten, nachdem wir mit dem Befragten, seinem Freund, und dem Freund des Freundes für mindestens zehn Selfies posiert haben. Doch auch diese Phasen lassen sich mit einem lässigen indischen Kopfwiegen rasch wieder ins Positive drehen. Wir sind froh, haben wir Indien eine Chance gegeben. Ostbengalen und Assam haben sich mehr als gelohnt. Das letzte Mal so von allen verwöhnt wurden wir im Sudan.

Wer uns kennt, weiss, dass hohe Pässe uns Herzchen in die Augen malen. Als sich daher die Möglichkeit ergibt, noch einmal Richtung Himalaya abzubiegen und einen letzten 4000er Pass zu fahren, überlegen wir nicht lange. "Veeeery cold", sind sich die Leute in Assam einig, als wir die "Wohin-Frage" mit Tawang zu beantworten beginnen. Und es wird dann auch wirklich ziiieeemlich kalt, als wir nach ein paar ersten kleineren Pässen durch dichten Dschungel zum Grande Finale auf den 4200m hohen Sela Pass hinauf radeln. Es ist ja immerhin Januar. Doch die Kälte tut unserer Freude keinen Abbruch. Blauer Himmel, frischer Schnee, dünne Luft. Die Gläser der Sonnenbrille haben einen leichten Stich ins Rosa. Und als bräuchten wir eine Bestätigung, springt der Funken zu diesem Land von Neuem. Ja, wir sind verliebt.

Zurück

© Alle Inhalte dieser Website gehören Brigitte & Ivo Jost, Hauptstrasse 82, 3854 Oberried, Schweiz
Für die Inhalte von verlinkten Seiten sind ausschliesslich deren Betreiber verantwortlich.