Mongolische Sound Souvenirs

„Erinnerungen. Sie waren für ihn nicht nur ein unermesslich kostbares, sondern auch ein äusserst fragiles Gut. Es war kein Verlass auf sie. Erinnerungen täuschten. Erinnerungen verblassten. Erinnerungen verflüchtigten sich. Neue Eindrücke, neue Gesichter, Gerüche, Geräusche legten sich über die alten, die nach und nach an Intensität verloren, bis sie in Vergessenheit gerieten. Er wollte unter allen Umständen verhindern, dass sich das Getöse der Welt auf seine Erinnerungen legte.“ (Das Flüstern der Schatten, Jan-Philipp Sendker)

Das Sirren tausender Mücken. Der Osten der Mongolei ist das Herzstück der gewaltigen Steppe. Riesige frei umherziehende Pferdeherden, einige wenige Nomaden, die der Weite trotzen. Doch nie war die Rede davon, dass er auch Brutkasten der gesamten Mückenpopulation der Mongolei ist. Nun, wir merken es schnell. Die Sommermonate mit den meisten Niederschlägen verwandeln das Tiefland in eine riesige Sumpflandschaft und die kaum befahrene Piste von Ereentsav an der russisch- mongolischen Grenze in die Distrikthauptstadt Choibalsan führt mitten hindurch. Kein Wunder stürzen sich die ausgehungerten Mücken auf die zwei hilflosen Radler, die sich Richtung Süden abmühen. Zu allem Elend geht uns auch noch das Antimückenmittel aus, ein gefundenes Fressen für die blutsaugenden Biester. Bald wählen wir unsere Rastplätze nur noch nach Antimückenkriterien. Ein grosser Haufen Pferdemist, eine halbvergammelte Schuhsohle, ein Fetzen Plastik – und schon sitzen wir mitten im stinkenden Antimückenrauch und gönnen uns eine Pause. Was nicht ganz leicht fällt mit dem Sirren tausender Mücken im Ohr.

Mongolische Worte. Den ganzen Tag schon fahren wir auf einer tollen Erdpiste ein Flusstal hoch. An den Hängen grasen Ziegen und Schafe, unten beim Fluss stehen die Jurten der Nomaden. Auf der gegenüberliegenden Talseite treibt ein vielleicht sechsjähriger Junge auf seinem Pferd alleine eine Herde zusammen. In einem Land ohne Wegweiser und hunderten von Erdpisten ist nebst dem GPS auch die mündliche Auskunft der Leute unabdingbar, um sich nicht zu verirren. So machen wir immer wieder Halt, um uns nach dem richtigen Weg zu erkundigen. Anders als in anderen Ländern besteht unser Wortschatz deshalb bald nicht nur aus den Begrüssungs- und Dankesfloskeln, sondern auch aus geografischen Begriffen. Fluss, See, Wasser, Berg, Pass und immer wieder taucht auch der „John“ in den Gesprächen auf. Leider treffen wir ihn bis ans Ende nie persönlich an. Nur einmal schlafen wir mit seinem Heulen im einen und dem lustigen mongolischen Wort für „Wolf“ im anderen Ohr ein.

Donner. Die Temperaturen klettern tagsüber weit über die dreissig Grad. Wir schwitzen Sturzbäche, doch jetzt gegen Abend kühlt es rasch ab. Wir beeilen uns mit Zähneputzen, kontrollieren noch einmal die Abspannleinen und schon geht das Spektakel los. Der Himmel leuchtet grell, die Blitze folgen im Sekundentakt, breiten sich senkrecht über das bleigraue Firmament aus. Weltuntergangsstimmung. Wir verkriechen uns ins Zelt. Das Wetterleuchten nimmt noch an Intensität zu. Ein bisschen wie Strobo in der Disko. Dann erreichen uns die ersten Windböen, reissen am Zelt und bald verstehen wir unsere eigenen Worte nicht mehr. „Gmüetlech, gäll?“ schreien wir uns Grimassen schneidend zu, während die ersten Regentropfen aufs Zelt klatschen. Fünf lange Minuten stehen wir im Zentrum des Sturms, dann ist der Spuk vorbei. Das Zelt steht noch. Erleichtert schlafen wir ein, das Grollen des sich rasch entfernenden Gewitters im Ohr.

Pfeifende Murmeltiere. Der Weg zum Otgon Tenger ist steinig. Beidseitig der Piste leuchten die Bergwiesen silbern und blau. Edelweisse und Enziane, und dazwischen immer wieder ein vorwitziges Murmeltier, das die Sippenmitglieder mit einem schrillen Pfiff vor der herankommenden Gefahr warnt. Murmeltiere werden in der Mongolei als besonderer Leckerbissen gejagt. Vor allem jetzt, da sie schön fett sind vor dem Winterschlaf. Vor uns taucht die weisse Schneekappe des Viertausenders auf. Der Otgon Tenger ist der heiligste Berg der Mongolei, Ursprung zahlreicher Flüsse, die das ganze umliegende Gebiet mit Wasser versorgen. Auf einer Karte haben wir eine „seasonal road“ gefunden, die entlang des Berges führen soll. Doch jetzt verneint der Nationalparkwächter vor uns resolut, zeichnet den grossen Umweg der Hauptstrasse Richtung Süden in die Luft. Wir insistieren, er zuckt schliesslich mit den Schultern und lässt uns passieren. Der Weg endet dann tatsächlich nach ein paar Kilometern am Fuss des Berges, keine Spur von einer „seasonal road“. Macht nichts, der Zeltplatz ist unschlagbar und wir schauen direkt aus dem Schlafsack zu, wie sich die Schneekappe langsam rosa färbt, ein letztes abendliches Pfeifen unseres Zeltnachbars im Ohr.

Der Puls. Fast senkrecht geht die Piste zum Pass hoch, wir schieben, verschnaufen, schieben erneut. Auf der Passhöhe können wir bereits das Ovoo erkennen. Ein grosser Steinhaufen, geschmückt mit blauen Bändern, ein paar weissgebleichten Pferdeschädeln und Opfergaben in Käse- und Geldform. Hinter dem Pass soll der Khar Nuur liegen, der schwarze See, eingebettet in die Sanddünen der Mongol Els. Schieben, verschnaufen, schieben. Ganz weit vorne sehen wir ein türkisblaues Band vor goldfarbenem Sand auftauchen. Bis jetzt waren wir nicht ganz sicher, ob wir richtig sind, denn wir konnten im Vorfeld nur spärlich Informationen zu dieser Gegend finden. Und die nächsten Tage werden dann auch zu einer eindrücklichen Fahrt durch eine der abgelegensten Regionen der Mongolei. Stille, nur das Pochen des Pulses im Ohr.

Motorradgeknatter. Seit gestern Nachmittag haben wir keine Menschenseele mehr gesehen. Die Strecke durch das zentrale mongolische Bassin ist im Sommer kaum besiedelt, da das Wasser und das Futter für die Tiere fehlt. Wie immer am Mittag spannen wir den Seidenschlafsack als Schattensegel zwischen die beiden Velos und machen es uns darunter gemütlich. Und genau jetzt nähert sich ein Motorrad aus Westen. Klar hält es an und schon bald sitzen wir mit einer mongolischen Familie zu sechst unter unserem Schattendach, teilen unseren Proviant und beantworten Fragen nach dem Woher und Wohin. Dann wird das Motorrad wieder beladen, der kleine Junge auf den Tank, dann der Vater, das kleine Mädchen klammert sich an seinen Rücken und ganz zuhinterst quetscht sich die Mutter auf den Sitz, beidseitig je noch einen grossen Mehlsack haltend. Auf mongolischen Motorrädern wird der Platz ausgenutzt. Wir winken zum Abschied, am Ende bleibt nur das Knattern des Motors im Ohr.

Ein rauschender Fluss. Wasser ist im Westen der Mongolei oft Mangelware. In den letzten Wochen war die Frage, wo wir auf der Strecke Wasser finden können, ein Dauerthema. Umso besonders ist es nun, dem Bulgan Gol auf seinem Weg aus dem Altaigebirge in die Wüste Gobi zu folgen. Das Flusstal wird vor allem von Kasachen bewohnt, wir erkennen ihre Jurten am steileren Dach und dem filigraneren Dachring, aber auch ihr Verhalten verrät sie. Sie sind viel zurückhaltender als die Mongolen, die Familienstrukturen wirken hierarchischer und männerdominierter. Die Frauen tragen oft ein farbiges Kopftuch und sie sind es auch, die die Hauptarbeit verrichten. Am Morgen melken sie die Kamele, stellen daraus den typisch getrockneten Quark her, sammeln den ganzen Nachmittag trockenen Dung, den sie bei ihren gemauerten Winterhütten zu grossen Haufen aufschichten. Brennstoff für den kommenden harten Winter. Dann, wenn das Rauschen des Flusses eine blosse Erinnerung sein wird.

Karaoke Bar. In jedem kleinen Dorf gibt es sie. Gut möglich, dass das Dorf nur aus zwei Häusern und einer Handvoll Jurten besteht. Aber bestimmt gibt es da auch eine Karaoke Bar. Vielleicht sogar mit VIP Raum. Die Mongolen sind ein Nomadenvolk, haben früher ihre Träume und Erwartungen, ihre Geschichten und Lebensweisheiten durch Erzählungen und Lieder weitergegeben. Und obwohl das heute nicht mehr so ist, auch die Mongolen Nachrichten per Handy verschicken, Ziegen mit dem Motorrad zusammentreiben, Fernseher in den Jurten stehen und die traditionellen Gesänge nun mit 120Watt verstärkt werden, so sind viele Mongolen doch Wanderhirten geblieben. Mit einer einfachen Jurte als zu Hause, einer Herde, die den Tagesablauf bestimmt und der Liebe zum Singen. Lieder, die nach Weite tönen, nach dem Umherziehen und dem Leben in der Steppe. Ihre Melodien hängen noch lange in unserem Ohr.

Das wütende Heulen des Windes. Die letzten 42km in der Mongolei liegen vor uns. Nach zwei Monaten in diesem Land, fast ausschliesslich auf ruppigen Sand- und Erdpisten haben wir gestern die von den Chinesen geteerte Grenzstrasse bei Bulgan erreicht. Ein Pappenstiel, haben wir gewitzelt, das machen wir in zwei Stunden. Doch nun macht das Land der zornigen Winde seinem Namen nochmals alle Ehre. Stürmischer Gegenwind aus Westen, als wollte er uns am Verlassen der Mongolei hindern. Eigentlich müssten wir nicht lange überzeugt werden, wir würden gerne länger bleiben. Aber unsere sechzig Tage sind um. Zwischen zwei Windstössen hören wir den Abschiedsgruss des mongolischen Grenzbeamten: Bayarti – auf Wiedersehen. Ja, ganz bestimmt.

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