Frauen im Minirock, Frauen mit Kopftüchern, Frauen schwarz verhüllt. Gegensätze, die ins Auge stechen. Moderne Städte und abgelegene Dörfer, westliches Denken und verwurzelte Traditionen. Geschäftsmänner in Anzug und Krawatte, Schafhirten im Strickpullover und zerschlissenen Hosen. Ihnen allen gemeinsam: Die türkische Gastfreundschaft, sie lacht uns aus jedem Gesicht entgegen. Hos Geldiniz! Willkommen, hier in der Türkei!
Schon seit Tagen riecht es nach vergorenen Trauben: Sauer, schwer, eindringlich. Im Westen der Türkei, unter der gnadenlosen Sonne trocknen die Rosinen der Welt. Ausgebreitet auf Tüchern, auf betonierten Plätzen, entlang der vierspurigen Fernverkehrsstrasse, vor den Häusern. Anfänglich grün und zuckersüss, dann schrumpelig und herb, am Ende trocken und köstlich. Der Duft reist mit uns, quer durch die Türkei.
Den ersten türkischen Chai trinken wir an einer Tankstelle. Es ist Abend. Wir haben den Tankstellenwart gefragt, ob wir hier übernachten können. Kein Problem. Aber zuerst gibt es Tee, starken Schwarztee, etwas bitter, süss. In Zentralanatolien begleitet uns der Gegenwind: Er lässt das gelb verbrannte Steppengras schwanken, zerzaust Bäume, rüttelt an den Sträuchern, lässt kleine Tornados in der staubigen Ebene entstehen, fordert uns hämisch zum Duell. Er weckt uns am Morgen und rüttelt am Abend am Zeltgestänge, ununterbrochen, quer durch die Türkei.
Der Muezzin in Pamukkale hat eine besondere Stimme. Fünfmal erschallt er am Tag von der Moschee neben unserer Pension. Zwischen jeder Sure eine Pause, man hört ihn atmen, er holt Luft, ein Knacken im Lautsprecher, dann singt er weiter, leidenschaftlich. Am Morgen sanft und leise, am Mittag hart und trocken, am Abend wehmütig, bis er verstummt. Moscheen gibt es überall im Land. Von jetzt an ist der Muezzin von Pamukkale unser Massstab. Seine Stimme im Ohr radeln wir weiter, immer gegen Osten, quer durch die Türkei.
Eine Frau verändert unser Leben in Zara, einer typisch türkischen Kleinstadt, in der wir nach einer langen Radetappe übernachtet haben. Beschaulich, mit einer massiven Moschee, einem Springbrunnen auf dem Stadtplatz und Jungs mit coolen Fahrrädern. Am Morgen stehen wir unschlüssig herum, suchen ein passendes Frühstück. Die Frau spricht uns auf Englisch an, fragt, ob wir frühstücken möchten. Im kleinen Laden vor uns gäbe es nämlich „Turkish breakfast, very cheap“, nur 5 Lyra pro Person. Wir sind skeptisch. Es gibt weder Stühle noch Tische, und der Laden sieht eher nach Kiosk als nach Frühstücksbuffet aus. Doch im Handumdrehen werden uns zwei Styroporteller gereicht, darauf Wurst, Käse, Honig, Butter und Oliven geschaufelt und in der Bäckerei um die Ecke werden wir mit frischem Fladenbrot versorgt. So ausgerüstet geht's ab ins nächste Teehaus. Man setzt sich mit dem Frühstück hin, geniesst Stuhl und Tisch in der Morgensonne und bekommt Kaffe und Tee serviert. Picknicken im Restaurant verboten? Was für ein Unsinn! Seither suchen wir in jedem grösseren Dorf am Morgen „Turkish breakfast, very cheap“. Und bald kennen wir auch das passende türkische Wort dafür: Kahvalti. Wir brauchen es oft auf dem Weg nach Osten. Es öffnet uns das Tor zum Frühstücksparadies in der Türkei.
Es ist kühler geworden. Die Weiten Anatoliens liegen hinter uns. Die Sommerhitze ist verflogen. An den Berghängen der Schwarzmeerküste hängt dicker Nebel. Die Birken verfärben sich, die Leute pflücken Hagebutten. Es ist Herbst geworden. Vor ein paar Tagen haben über unseren Köpfen Störche ihre Kreise gezogen, sind wir vom Lärm der Stare in den Bäumen erwacht. Sie ziehen nach Süden und wir gegen Osten. Immer weiter, bis ans Ende der Türkei.
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