Sibirischer Winter

Eine Welle rollt Richtung Ufer, unterirdisch. Das Wasser schwabbt an die dicke Eisdecke, löst ein dumpfes Grollen aus. Scharfe Knalle, die sich netzartig ausbreiten. Plötzlich beginnt die grosse Spalte wenige Meter neben uns zu leben. Ein Knirschen, wie zwei Stahlbleche, die aneinander reiben. In Zeitlupentempo schiebt sich eine dicke Eisplatte über die andere, türmt sich mehr als einen Meter hoch auf. Fasziniert, mit einem flauen Gefühl im Magen schauen wir zu. Dann ist es wieder still.

Als wir am Abend Wladimir, dem alten Holzfäller davon erzählen, nickt er bloss. „Äto Baikal“, meint er, „das ist „ER“. Für die Einheimischen ist der Baikal mehr als ein See. Er bringt Leben und nimmt Leben. Wenn sie von ihm sprechen, dann oft in der dritten Person. Auch wir merken in den nächsten Tagen, in denen wir den gefrorenen Baikal von Süden nach Norden hoch radeln, dass wir uns seiner Magie nicht verschliessen können. Wenn wir zum Überqueren einer schwierigen Presseiszone laut vor uns hin fluchen, entschuldigen wir uns innerlich unverzüglich dafür: „Verzeih, es war nicht so gemeint.“
Auf der Olkhon Insel sind wir mit Igor verabredet, einem erfahrenen Eisjeepfahrer. Er markiert uns die aktuellen grossen Spalten auf der Karte, gibt uns Tipps, wo und wie wir diese überqueren können. Beim Pokoyniki Cape hält sein Finger sekundenlang auf der Karte inne. „Hier solltet ihr nicht anhalten“, meint er knapp. Später hören wir Geschichten über Visionen, über seltsame Stimmen in der Luft. Eine Legende von ungeklärten Todesfällen in einem nahen buriatischen Dorf wird erzählt. Der Baikal ist der älteste See der Erde. Er hütet viele Geheimnisse.

Wir haben das Wummern des Eises noch im Ohr, als wir in einem Liegewagen auf der Baikal-Amur Magistrale mehr als tausend Kilometer Richtung Nordosten fahren, zum Startpunkt des legendären Kolyma Highways, der einzigen Piste durch den äussersten Zipfel Sibiriens. Wir fahren „Platzkart“, teilen uns den Wagen mit raubeinigen Strassen- und Minenarbeitern, die auf dem Weg zu ihrem neunmonatigen Arbeitseinsatz sind. Teilweise mehr als fünftausend Kilometer von zu Hause entfernt, drei Viertel des Jahres weg von Frau und Kindern. Oleg aus Weissrussland, der im unteren Bett schläft, zeigt uns am nächsten Morgen Fotos von seiner Familie, eine hübsche Frau mit einem kleinen Jungen auf dem Arm und einem blonden Mädchen im Schulalter an der Hand. Der Waggon ist völlig überheizt, es stinkt nach Instantnudeln, nach Schweiss und nach über den Abschied hinweg tröstendem Wodka. Und trotzdem sind wir dankbar dafür, nicht so unterwegs sein zu müssen, wie die Strafgefangenen siebzig Jahre vor uns. Der Kolyma-Highway trägt einen Übernamen – the road of bones, die Strasse der Knochen. Millionen wurden während Stalins Säuberungen in die Gulags von Jakutien und Magadan deportiert, Hunderttausende sind beim Bau der Strasse in den Sümpfen und Wäldern Ostsibiriens gestorben. „Nur wenige waren schuldig, die meisten zu Unrecht verbannt“ steht auf einer Gedenktafel am Strassenrand.

Die russische Republik Sacha ist knapp so gross wie Indien. Ihre Hauptstadt, an den Ufern der Lena gelegen, ist die kälteste Stadt der Welt. Im Dezember und Januar steigt das Thermometer tagsüber kaum über -45 Grad. Die grossen sowjetischen Plattenbauten stehen auf massiven Betonstelzen, um den Permafrostboden nicht aufzutauen. Jetzt Anfangs März ist es bloss noch minus fünfzehn. Am Abend laden uns Andrei und Gavriel, zwei russische Ärzte im Hotel zu einem Vanilleeis ein, und als wir am nächsten Nachmittag über den Leninplatz schlendern, sehen wir Teenager, die im Sweatshirt die warmen Sonnenstrahlen geniessen. Es könnte irgendwo in Asien sein, in Korea oder der Mongolei. Die Sacha sind ein Volk mit Turkwurzeln. Sie haben helle Haut, dunkle Haare, feine Gesichtszüge mit schräggestellten Augen und flachen Nasen. Sie sprechen eine kehlige Sprache voller Üs und Ös. Auch ihre Traditionen haben wenig mit Russland zu tun. Zäune mit windzerzausten Stoffbändern an den Rayongrenzen, grosse geschnitzte Holzpfähle, das Pferd als heiliges Symbol. Erbe der alten Naturreligion.

Auf dem Schild am Dorfeingang von Üchügei steht neben dem Pferd ein Rentier. Ewenen, die Rentiernomaden, machen mit 3% nur noch einen kleinen Teil der Bevölkerung aus. Sie sind der Grund, weshalb wir einen Abstecher von der Hauptstrasse in das Gebiet rund um Omjakon machen. Mit dem Schneemobil fährt uns Kyrril hinaus zu seinem Vater Fiodr. Der Sechzigjährige ist Ewene, lebt noch wie früher das ganze Jahr in einem Zelt in der Wildnis. Er folgt den Wanderbewegungen seiner Herde, schützt die Rentiere vor hungrigen Wölfen, lebt von und mit ihnen. Im Wachstuchzelt liegen Rentierfelle am Boden, ein kleiner Eisenofen bollert neben dem Eingang vor Hitze. Es riecht nach Harz und Fichtennadeln. Fiodr schenkt Tee in Blechtassen aus und widmet sich dann wieder seinem Kreuzworträtsel. Ab und zu schaut er auf, dreht ein paar Knöpfe an seinem Radio, wirft ein neues Holzscheit in die Glut, während von draussen das Getrampel von mehreren Hundert Rentieren hereindringt.

Am zweiten Nachmittag fangen die beiden mit dem Lasso Rentiere ein und spannen sie vor einen Birkenholzschlitten. Die Rückreise erfolgt traditionell... Die Schlittenrennen, die wir eine Woche später am alljährlichen Fest miterleben, haben dann nur noch wenig mit gemütlichem Jingle Bells zu tun. Voller Stolz zeigen die Ewenen ihr Können im Lassowurf, Rentierreiten und Schlittenfahren. Der Schnee stiebt, die Zungen der Rentiere hängen fast bis auf den Boden und mehr als ein Fahrer wird in der Kurve vom Schlitten gefegt. Doch es lohnt sich: Den Gewinner erwartet ein brandneuer Quad.

In der Republik Sacha schlummern Bodenschätze in Milliardenhöhe. Seit Stalins Gulagzeit wird hier Gold geschürft. Zuerst von den Strafgefangenen, mit nichts anderem als „einer Brechstange, einer Spitzhake, einer Schaufel und einem Löffel“. Damit wurden Sprenglöcher in den Permafrostboden getrieben, den man danach bis in eine Tiefe von drei Metern wegsprengte. Im Frühjahr schossen dann die Gebirgsbäche voller Schmelzwasser mitten durch die so blossgelegten Goldfelder. Die Arbeit der Goldwäscher begann. Auch heute verlässt das Gebiet jährlich um die dreissig Tonnen Gold. Auf dem Weltmarkt des Diamantenabbaus ist Sacha führend. Russland ist Europas grösster Öl- und Gaslieferant. Die ergiebigsten Vorkommen lagern hier in Ostsibirien. All diese Bodenschätze liegen eigentlich auf Ewenenland, doch die Urbevölkerung profitiert davon nichts. Das Gegenteil ist der Fall, ihre natürlichen Weidegründe werden immer mehr eingeschränkt und gehen durch die Umweltverschmutzung kaputt. Kilometerweit radeln wir durch Flusstäler, welche aussehen, als wären sie von einer Kolonie Riesenmaulwürfe umgepflügt worden. Vor unseren Augen spielt sich das bekannte Drama im Kampf um Rohstoffe ab. Tradition und Fortschritt, Umwelt gegen Wirtschaft, Macht und Ohnmacht.

Juri, der Meterologe in der Meteostanzia von Deliankur zögert, als wir ihn nach Leuten in Ozernoe fragen: „...njet, liudi njeto“ meint er, obwohl, ein bewohntes Haus habe es schon noch, er wisse aber nicht, ob wir dort übernachten können. Da es erst vier Uhr ist und die Sonne jetzt im April bis neun scheint, beschliessen wir, die dreissig Kilometer noch zu fahren. Ozernoe stellt sich als einer der vielen unheimlichen Geisterorte heraus, die wir auf dem Kolyma-Highway immer wieder durchradeln. Zwangsansiedlungen aus der Sowjetzeit, die nach dem Zusammenbruch aufgegeben wurden, Minenstädte, die nach der Ausbeutung ihre Daseinsberechtigung verloren haben. Doch da hören wir einen Hund bellen. Am Fluss unten, versteckt hinter ein paar Bäumen, finden wir eine kleine Hütte mit rauchendem Schornstein. Breite Holzskis mit Lederschlaufen, ein rostiges Schneemobil samt Schlitten stehen davor. Ein älterer Mann mit ewenischen Gesichtszügen öffnet uns die Tür zu einer Räuberhöhle.

Die Decke und Wände sind vom Rauch geschwärzt, die Fensterscheiben fast blind. Vier weitere Männer in unterschiedlichem Alter tauchen aus dem Nebenraum auf. Wir trinken Tee, fragen nach Rentieren, da wir uns nur diese als Lebensgrundlage vorstellen können. Nein, Rentiere gäbe es hier seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine mehr. Wie verheerend das Ende der UdSSR für diese Aussenposten gewesen sein muss. Von einem Tag auf den anderen haben die Leute ihre Arbeit in den Sowchosen, den staatlichen Landwirtschaftsbetrieben verloren. Die Menschen waren wieder zur Selbstversorgung gezwungen, etwas das ihnen in den Jahrzehnten davor vollkommen ausgetrieben wurde. Wir finden nicht heraus, wovon die Männer heute leben. Goldwaschen? Jagen? Spät fährt ein alter Lada vor. Ein weiterer Mann kommt hinzu. Er hat Zucker aus dem hundert Kilometer weit entfernten Laden mitgebracht. Natürlich hat auch er noch Platz. In der Kälte wird hier niemand stehen gelassen, das wissen wir inzwischen. Auch wir wurden in den letzten Wochen immer wieder eingeladen, erhielten Essen und Unterkunft, ohne dass man unser Geld annahm. Heute wird's allerdings wirklich eng. Wir schlafen in der quadratmetergrossen Küche auf dem lehmgestampften Boden. Um Mitternacht bringt uns der Hund einen Knochen.

Es taut. Der Eispanzer der Strasse bricht auf, hinterlässt Matsch, Dreck und Wasser, das nicht versickern kann. Noch 500 km bis Magadan. Wir beginnen zu zählen, Kilometerschilder werden zu Jahreszahlen. Wir versuchen sie mit Russlands Vergangenheit zu verbinden, mit dem Resultat, dass wir nun auch noch gedanklich im Schlamm wühlen. Erstaunlich, aber wir haben keinen Schimmer, was da vor 500 Jahren im grössten Land der Welt so vor sich ging. Erst als 100km vor Magadan der Asphalt beginnt, kommt die Sache langsam ins Rollen und wir können mit ein paar unrühmlichen Daten aufwarten – Sturz des Zaren 1917(km) – Stalin 1927(km) – Tschernobyl 1986(km)...alles negative Ereignisse. Je weiter wir uns der Gegenwart nähern, desto hartnäckiger tauchen sie auf. Plötzlich scheinen wir ganz viel über dieses Land zu wissen. Dunkle Vergangenheit, eine gescheiterte Weltmacht, unberechenbar...

Der 2000km Pfosten saust vorbei. Ihm entsteigt das Schreckgespenst Putin. Die Angst vor seinem Energie- Imperium und vor dessen Abhängigkeit geistert durch die westlichen Medien. 2011(km), Russland blockiert die Sanktionen gegen Syrien. 2012(km), Pussy Riot wird eingelocht. 2013(km), Putin gründet eine neue staatliche Nachrichtenagentur mit Zielpublikum Ausland, setzt ihr den Scharfmacher Dmitri Kisseljow an die Spitze und von nun basteln die Medien im Westen und Osten hemmungslos an der weltpolitischen Meinungsfratze. 2014(km), in der Ukraine knallts, Russland wird von der Welt verachtet – und wir radeln durch Sibirien. Unsere Erinnerungen sind voll mit herzlichen Begegnungen. Menschen, die in einem der härtesten Landstriche der Welt leben, haben ihr Zuhause und ihre Geschichten mit uns geteilt. Zweieinhalbtausend Kilometer sind wir durch Wildnis geradelt, deren unvorstellbare Grösse und raue Schönheit uns jeden Tag aufs neue überwältigt hat. Wieder einmal sind wir erstaunt, wie anders ein Land sein kann, von dem man zu wissen glaubt, wie es ist. 2025km, der Kolyma-Highway mündet in die Ochotsk See.

Heute sind wir von Magadans Zentrum auf den Hügel hochgefahren, auf dem die Maske der Trauer steht. Ein Denkmal an die sibirischen Sträflinge. Ein steinernes Gesicht, das aus dem linken Auge Menschenköpfe weint. Es schaut zum Meer. Erste Plusgrade haben das Eis in der Bucht zum Schmelzen gebracht. Nur am Ostrand hält es sich noch hartnäckig. Weit draussen glitzern Wellenkämme. Möwen schreien. Dann ist es wieder still.

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