Die Welt ist gross. Das Kartenmaterial von Afrika liegt aussortiert auf dem Boden, die Fahrräder sind bereits in die Kartons verpackt und auch die Packtaschen warten nur noch auf die letzte Schutzhülle aus Abfallsäcken und Paketband. Bereit für die Weiterreise, doch wohin?
Pläne Auf einem Fetzen Papier zeichnen wir eine Jahreszeitentabelle, kritzeln die verschiedenen Ideen und Varianten auf. September bis März... Neuseeland? Wann ist eigentlich die geeignete Jahresezeit um die Great Divide Mountain Bike Route in den USA zu fahren? Oder Ende Februar ganz oben in Kanada am arktischem Ozean auf ein paar Eisstrassen südwärts starten? Es wäre die letzte Gelegenheit, denn bis im 2016 soll die Allwetterstrasse bis ans McKenzie-River-Delta fertig gestellt sein. Doch was machen wir bis dann? Am Ende treffen wir die Entscheidung spontan. Ein billiger Flug nach Südamerika – endlich unsere Andenhauptkamm Route realisieren, die uns seit unserer Südamerikareise vor zehn Jahren im Kopf rumspukt. Und ein Abstecher in den patagonischen Winter wäre doch auch was.
Landschaften Wir verbringen einen sonnigen Tag beim Perito Moreno und holen nach, was wir vor zehn Jahren verpasst haben: Stahlblauer Himmel und fast alleine auf den Laufstegen, die an der Flanke des riesigen Gletschers entlangführen. Während wir auf das Knirschen des Eises lauschen, sein tiefes Blau bewundern und uns ein eisiger Wind um die Ohren pfeift, werden wir uns rasch einig: Wir haben die richtige Entscheidung getroffen.
Von El Calafate aus geht es hinaus in die Pampa. Vor zehn Jahren und nach 1500km topfebener Landschaft unser Radlerschreck, empfinden wir sie nach den langen geraden Strecken in Afrika als gar nicht mal so übel. Wusch – und schon stehen wir am Fuss der hier noch jungen Anden.
Wir fahren durch eine frisch verschneite Bergwelt. Die Strecke ist einsam, kaum jemand verirrt sich in das wilde Grenzland am Paso Raballos. Winterstille, eine überzuckerte Märchenwelt, Narnia. Wir lieben es.
Menschen Wir zelten im Windschatten eines Strassenarbeiterhauses. Kochen und Essen dürfen wir in der gut geheizten Küche von José, der hier seine vierwöchige Schicht ableistet. Während wir die Zwiebel kleinschneiden, saugt er an seinem silbrigen Röhrchen aus dem Matebecher. Er will wissen, wie es uns in Argentinien gefällt. Wir haben nicht nur Positives zu berichten und auch José meint: „Ja, Argentinien hat eigentlich alles, Gas, Petrol, Lebensmittel, um das ganze Land zu versorgen, Wasser, Tourismus – solo falta el cerebro – nur das Hirn fehlt uns.“ Dabei spielt er auf die schiefe Wirtschaftslage an, die Korruption, die das Land in den Abgrund treibt. „Ich verdiene 1500 Dollar im Monat, damit muss ich meine Frau und drei Kinder durchbringen“, fährt er empört fort, „das reicht kaum zum Leben!“ Später sprechen wir über unsere Reise, das Leben in Asien und Afrika. Wir erzählen von den vielen Leuten, dass wir in Zentralafrika manchmal die Einsamkeit vermisst haben und José lacht: „Ja, damit habt ihr in Patagonien kein Problem, aqui falta gente!“
José hat recht. Wir begegnen kaum Menschen. Wer wagt es schon, diesem unwirtlichen Klima zu trotzen, hat die Fähigkeit, dem kargen Land genug zum Überleben abzuringen? Nur hin und wieder stehen einfache Holzschilder am Strassenrand mit aufgepinselten Aufschriften: „Estancia La Soledad – 5km“, „Estancia El peligro lugar – 8km“, „Estancia El ultimo rincón – 15km“. Zwei Reiter mit einer Meute Hunden in der Ferne, ein klappriger Ford, der im Schneegestöber anhält: „Lindo dia para andar en bici...“ Schalk blitzt aus den Augen des Fahrers, ein wettergegerbtes Gesicht, ein kariertes Halstuch. Schräg sitzt das schwarze Beret auf dem Kopf. Gauchos wie aus dem Bilderbuch.
Länder Zwischen Argentinien und Chile herrscht Abneigung und Konkurrenz. Argwöhnisch hat uns José gefragt, ob wir denn auch nach Chile gehen würden. „Klar“, haben wir geantwortet und prompt einen Vortrag darüber eingefangen, wie klitzeklein und unscheinbar Chile (der Fensterrahmen) im Vergleich zum grossen, überlegenen Argentinien (die ganze Fensterscheibe) sei. Und dennoch scheint der Fensterrahmen solider dazustehen als die Glasscheibe. Während wir in Argentinien das Gefühl haben, dass alles langsam verlottert, dass die Preise in keinem Verhältnis zur Leistung stehen, dass die Menschen vor zehn Jahren lebensfreudiger und freundlicher waren, sehen wir in Chile Veränderung. „Chile mejor – Chile ist besser“, verkünden die Staatsplakate an jeder Ecke. Und obwohl auch in diesem Land vieles schief läuft, müssen wir der Propaganda insgeheim recht geben.
Strassen Wir sind sie gerne noch einmal gefahren, die Carretera Austral. Traumstrasse im patagonischen Süden, Vorzeigeprojekt der Chilenen. Mittlerweilen ist sie fast durchgehend geteert, ist schneller und befahrener geworden, hat ihren Charakter an vielen Orten eingebüsst. Doch dem Lago General Carrera entlang gibt es sie noch, die schmale ruppige Schotterpiste, die steilen Steigungen, die atemberaubenden Ausblicke. Wie lange noch?
Im Parque Nacional Los Alerces folgen wir einer weiteren Erinnerung an die Carretera. Ein kurvenreicher Weg, an klaren Seen und gefrorenen Wasserfällen vorbei, durch dichte Lärchenwälder. Baumriesen, knorrig und alt. Der Wind schüttelt die frische Schneeladung von den Wipfeln. Es rauscht in den Ästen.
Dem Rio Aluminé entlang steigt eine schmale Erdstrasse zum Pino Hachado Pass hoch, gesäumt von Araukarien, dem Lebensbaum der Mapuche. Stachelige Blätter, geschwungene Äste, raue schuppige Stämme. Die Abendsonne wirft ihre Schatten vor unsere Räder. Kein Auto weit und breit. Wir zelten in einer Kurve und als wir zum Zähne putzen in den sternenklaren Nachthimmel schauen, erinnern uns die schwarzen Baumsilhouetten an einen einsamen Palmenstrand.
Ruta 40, wir hassen dich. Zu gut wissen wir, wie langweilig deine oft schnurgeraden Kilometer von Bolivien bis Feuerland führen. Doch dieses Mal täuschen wir uns in dir. Statt öde die Provinz Neuquen zu durchqueren, suchst du dir deinen Weg durch schwarze Lavafelder, um schneebedeckte Vulkane und über smaragdgrüne Flüsse. Eine Urwelt aus Basaltfelsen, Sand und Stein, rostrot, silbriggrau, schwefelgelb, gekrönt von den letzten Schneeresten. Ruta 40, so gefällst du uns.
Dinge Wir haben unsere Ausrüstung während den zwei Jahren immer mehr abgespeckt. Doch es gibt Dinge, die das Radlerleben erheblich vereinfachen und auf die wir nicht verzichten können. Ein stabiles Zelt, ein guter Schlafsack, unser Kocher. Doch dann gibt es auch unscheinbare Gegenstände, die jahraus- jahrein ganz unspektakulär, aber zuverlässig ihren Dienst tun. Zum Beispiel unser Topfgriff. Er stammt noch aus dem Reisegepäck von Ivo's Eltern, ist schon fast vierzig Jahre im Einsatz und trotzdem hat er noch nie schlapp gemacht. Auf der Innenseite des Griffs steht der Markenname Marco. Darum heisst er für uns auch so. Tatsächlich passiert es, dass wir Marco an einem Morgen, nachdem wir wild gezeltet haben, vergessen einzupacken. Wir merken es erst am Abend, hundert Kilometer später. Der Wertverlust würde bloss fünf Franken betragen, doch Marco ist das einzige Reiseutensil, welches ohne Ersatz während insgesamt sechs Reisejahren und über 80'000 km unserer bisherigen Reisegeschichte immer dabei war. Sicher liegt er jetzt todtraurig und verlassen am Fluss. Wir sind uns einig: Wir müssen ihn holen. In drei Stunden trampen wir zurück – und er ist wirklich noch da. Welch ein Glück, Marco wird seine Reise mit uns fortsetzen!
Radfahrer Über den Paso Los Libertadores geht es von Mendoza zurück nach Chile. Um diese Jahreszeit sind die weiter nördlich und südlich liegenden Pässe noch geschlossen und auch diese Hauptverbindung wird oft willkürlich gesperrt, je nach Wetter oder politischer Laune.
Wir hängen zwei Tage auf der Anfahrt fest und langsam staut sich ein beachtliches Radfahrergrüppchen. Als wir im Massenlager bei Puente del Inca übernachten, sind wir zu fünft. Ein französisches Pärchen, das von Kolumbien bis Ushuaia radelt, mit gesponserter Ausrüstung und aufgedruckten Reiselogos auf den Klamotten, das von seiner „Expedition“ spricht und nach strengem Zeitplan fährt. Und Klaus, ein österreichischer Lebenskünstler, der zu Hause die Behörden auf die Palme bringt, indem er sich als freier Vagabund mit Wohnsitz Wald anmeldet, der vor vierzehn Monaten mit einem einfachen, selbst bemalten, von seinem ehemaligen Chef geschenkten Fahrrad in den USA losgeradelt ist und dessen Reise bald in Santiago zu Ende geht. Noch nie sind wir auf so unterschiedliche Radfahrer getroffen.
Am nächsten Morgen schnappen sich die beiden Franzosen einen 4x4 Pick Up um nicht wieder vor geschlossenem Pass sitzenzubleiben, während Klaus und wir uns entscheiden, auch noch die restlichen Kilometer bis zum Tunnel hochzuradeln. Bald stürmt und schneit es, Lastwagen stehen quer und die letzten drei Kilometer stemmen wir uns gegen ein Whiteout, das uns vom Rad fegt. Nach zwei Stunden finden wir einen Transport, der uns durch den internationalen Tunnel bringt und wir rollen die Serpentinen hinunter in den Frühling.
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