Wie zerknittertes Packpapier liegen unter uns die trockenen Berge von Ladakh und Zanskar. Warmes Morgenlicht leckt die kalten Schatten aus den Tälern und projeziert bläuliche Umrisse auf die Schneefelder und Gletscher der höchsten Gipfel. Langsam senkt sich der Flieger über die grünen Oasen im Industal, fliegt eine letzte Kurve und setzt auf. Hierher haben wir uns in den letzten Wochen in Kanada geträumt. Und jetzt, nach einem langen Flug von Vancouver über Delhi sind wir endlich da. Und noch etwas anderes ist endlich wieder da. Das Kribbeln, die Spannung, die Entdeckungslust - unsere Reisefreude ist zurück. Wir spüren sie in unserem Kopf, im Herzen, im Bauch. Ein breites Grinsen, und dann ab aufs Velo!
"Your first visit to Ladakh?", fragt uns der Flugplatz Officer beim Zusammenbauen unserer Bikes. Nein, im Sommer 2012 sind wir den Manali-Leh Highway gefahren und dann mit Pferd und Velo vom Tso Moriri See über den 5570 Meter hohen Parang La ins Spitital getrekkt. Doch diesmal konzentrieren wir uns allein aufs Zanskartal. In Kanada war es nur möglich gewesen, ein knapp bemessenes 30 Tage E-Visa für Indien zu bekommen. Doch wir sind entschlossen, das Beste aus diesen dreissig Tagen herauszuholen.
Die Strecke nach Kargil nutzen wir zum Einfahren. Ein schmales Teerband zieht sich dem Indusfluss entlang und erklettert dabei auch ein paar 4000er Pässe, wenn ihm die Talsohle gelegentlich doch zu eng wird. Die Wolken hängen tief, verhüllen die höchsten Gipfel mit einem Trauerschleier. Der Monsoon bringt Regen. Grosse, kalte Tropfen klatschen auf unsere Brillengläser, die Gebetsfahnen hängen nass und schlaff auf der Passhöhe des Futu La. Doch da reisst unerwartet die dicke Wolkenschicht auf. Warmes Sonnenlicht kämpft gegen die dunkle, graue, verwaschene Welt und malt einzelne Lichtinseln in das monotone Grau. Ein Regenbogen am Himmel, helle Dampfwölkchen über dem Asphalt - dramatisch, genau so muss der Himalaya sein. Wir grinsen uns an: "Blauer Himmel wäre doch einfach nur langweilig."
Kargil ist letzter Versorgungspunkt für die nächsten dreihundert Kilometer. Die kleine Stadt liegt im Kashmir, der nach wie vor von Pakistan beanspruchten Region und ist stark muslimisch geprägt. Wir fühlen uns nach Zentralasien versetzt und als wir auf dem Bazar Datteln aus dem Iran finden, verstärkt sich das Déjà Vue Gefühl noch. Auch die nächsten Tage durchs Surutal könnten irgendwo in Tajikistan sein. Die gleichen viereckigen Lehmhäuser, kleine Moscheen, die Frauen mit ihren bunten Kopftüchern und den weiten Pluderhosen, die Männer mit den kleinen Gebetskappen auf dem Kopf. Doch dann beginnt die Piste anzusteigen. Zuerst sanft durch ein weites Hochtal, am Schluss in engen Serpentinen, erklettern wir den 4300m hohen Penji La, das Tor zum alten Königreich Zanskar. Eine weisse Stupa steht auf der Passhöhe, farbige Gebetsfahnen knattern im Wind, die Sonne strahlt vom Himmel. Wir sind zurück in der tibetischen Welt und stehen auf einem wilden, hohen Pass. Ein Grinsen allein reicht jetzt nicht mehr. Das Echo wirft unser Jauchzen zurück.
Padum, der Hauptort des Zanskartals ist ein grosses Dorf. Die meiste Zeit des Jahres von der Aussenwelt abgeschnitten, hoffen die Menschen auf die Fertigstellung der neuen Strasse dem Zanskarfluss entlang nach Leh und der Verbindungsstrasse über den Shingo La an den Manali-Leh Highway. "In five years the road work will be finished", meint die Guesthousebesitzerin überzeugt, "dann wird das Leben hier viel einfacher werden." Wir zweifeln, denn bereits bei unserem ersten Besuch vor vier Jahren waren die Bauarbeiten in vollem Gange und schon damals hörten wir das "...in fünf Jahren..." Immerhin kann man jetzt von der Manaliseite bis zum Shingo La hochfahren und auch hier hat sich die Strasse weitere vierzig Kilometer ins Flusstal gefressen. So können wir bis Tsetang noch fahren. Doch dort endet die Piste vor einer massiven Felswand und führt als schmaler Trekkingpfad weiter in die Höhe. Wir verladen unser Gepäck auf ein Pferd und machen uns daran die nächsten Tage unsere Bikes über ausgesetzte Wege, schwankende Hängebrücken, grosse Felsbrocken und die ein oder andere Felsstufe zu wuchten.
Doch die Anstrengungen lohnen sich. Im oberen Zanskartal scheint die Zeit still gestanden zu sein. Kleine Dörfer, terassierte Felder, Bergleute mit verwitterten Gesichtern. Die tibetischen Häuser erinnern an kleine Trutzburgen: Gedrungen, massiv, weiss gestrichen. Auf den Flachdächern liegen die Wintervorräte aufgeschichtet. Getrocknete und flachgepresste Yakfladen als Heizmaterial, trockenes Gras und die ausgedroschenen Ähren der Gerste als Futtervorrat für das Vieh. Und über allem flattern die Gebetsfähnchen und sorgen so für das nötige Glück, um die kalte, harte Jahreszeit gesund überstehen zu können.
Vier Tage später stehen wir nach einem harten Anstieg auf dem Shingo La, 5100m. Hier verabschieden wir uns von unserem Pferdeführer und laden das Gepäck wieder auf die Bikes, denn hier beginnt die Piste an den Manali-Leh Highway. Ein 2000 Meter Downhill hinunter nach Jispa direkt unter die heisse Dusche. Wir brauchen nicht in den Spiegel zu schauen, wir spüren es auch so. Da ist es wieder, dieses breite Grinsen, und nun kriegen wir es kaum mehr vom Gesicht.
Riesige Granitfelsen, ein reissender Strom, Gletscherzungen, die fast am Strassenrand lecken. Und irgendwo mitten durch das archaische Tal windet sich eine aus groben Steinen bestehende Piste hinauf zum Kuzum La. Es ist unser letzter Himalayapass in Indien und immer noch einer der schönsten, auch wennn wir ihn nun schon zum zweiten Mal fahren. Mit ihm erreichen wir das Spitital.
Langsam wird die Zeit knapp. In vier Tagen müssen wir aus Indien ausreisen, noch rund achthundert Kilometer bis an Nepals Grenze liegen vor uns. Zu weit, um in dieser Zeit zu schaffen, vor allem mit diesen Strassenverhältnissen. Mit einem Laster trampen wir die letzten hundert Kilometer aus dem Spiti Tal bis nach Shimla. Riki, der junge indische Fahrer meint: "I know Switzerland", in den Filmen würde der Polizist jeweils fragen "where is your money?" und der Gangster würde dann sagen: "At a Swiss bank!" Auch sonst ist Riki ein pfiffiger Geselle. Als wir ihm anhand der Teepreise zu erklären versuchen, wie teuer das Leben in der Schweiz sei (in Indien zahlt man 10 Rupies für einen Tee, in der Schweiz 300!) meint er nach kurzem Überlegen: "Then I go to Switzerland and sell only tea!". Ja, wenn es bloss so einfach wäre.
Von Shimla chartern wir ein Taxi. Zu knapp ist die Zeit für einen der klapprigen Busse. Auch so dauert die erste Etappe unserer Monsterfahrt immer noch zehn Stunden. Haridwar ist unser Tagesziel, die heilige Stadt am Ganges. Zuerst geht es kurvenreich raus aus den Bergen. Unser Fahrer meint: "Vor zwanzig Jahren, als es hier noch keine Strasse und Autos gab, war diese Region extrem gefährlich!", sagts, schmeisst den Pannenblinker rein und drückt aufs Gaspedal. Ein schelmisches Grinsen Richtung Innenspiegel. Doch leider ist da keiner...
Haridwar. Hier erreicht der Ganges das indische Tiefland. Tausende Pilger versammeln sich an den Ufern des breiten Stroms. Eine farbige Menschenmenge, badend, betend und ihr Heil im Wasser suchend. Blumenschiffchen werden auf die Reise geschickt, orange gekleidete Sadhus mit verfilzten Bärten segnen die Menschen, brennende Fackeln in der feuchten, heissen Abendluft. Klischeeindien: Bunt, laut, dreckig, fremd - und doch faszinierend.
Am nächsten Tag steht uns erneut eine wahnwitzige zehnstündige Autofahrt bevor, auf zu überfüllten Strassen und "Autobahnen" auf denen Geisterfahrer zum Regelverkehr gehören. Die Hupe scheint irgendwie zu klemmen, gebremst wird nur für Kühe, die Müllberge und Abwasserlachen stinken zum Himmel und trotz Fahrtwind hängen wir im Sitzpolster wie zwei ausgedrückte Schwämme. Das Grinsen? Es ist irgendwo an der eingedrückten Seitentür zerquetscht worden, die unser Fahrer mit einem indischen Kopfwippen abgetan hat. Doch ungeachtet dessen überqueren wir pünktlich am letzten Tag unseres Indienvisas den Grenzfluss nach Nepal. Ab sofort haben wir wieder eine neunzig Tage Frist. Ein breites Grinsen - just relax...
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