Kaukasus

Gestern sind wir in Yerevan, der Hauptstadt Armeniens eingerollt. Unvorbereitet, keinen Stadtplan im Kopf, keine Hoteladresse rausgeschrieben, es dunkelte bereits ein. Nachlässig könnte man meinen. Das tönt doch nach stundenlangem Herumirren, nach erfolglosen Versuchen Sprachbarrieren zu überwinden, nach endlosem Stress und am Ende einer Nacht auf einer verlassenen Parkbank, weil man keine geeignete Unterkunft finden konnte. Alles passé, solche Sorgen begleiten uns nur noch selten. Wir haben nichts verschlampt, die Einfahrt wird zum Klacks. Wir fragen uns zum Zentrum durch, Laptop aus der Tasche, mit einem der ungesicherten WLAN Netzwerke verbinden, dann eine halbe Stunde auf dem Internet rumsurfen, einen Screenshot von google.maps auf den E-Reader laden, gemütlich zum nächsten günstigen Hostel radeln. Fertig.

Das Internet hat die Welt verändert. Klar, nichts Neues, hundertmal gehört, eine abgedroschene Phrase. Und trotzdem erstaunt es uns immer wieder, wie blitzschnell diese Entwicklung gegangen ist. Südamerika 2006, das Iphone war noch nicht erfunden, kaum ein Hostel hat über ein eigenes WLAN verfügt. Um einen Bericht aufs Netz zu stellen, haben wir uns stundenlang in verrauchten Internetkaffees rumgetrieben. Stromausfälle, Systemabstürze, das Geballer von Videogames um uns herum - es war grässlich. Heute hat jede billige Absteige Anschluss ans Netz. Wir sitzen im Zimmer, skypen mit den Eltern, schreiben Mails an Freunde, ergoogeln uns im Abstand von wenigen Minuten das Rezept für einen Blechkuchenteig, die neusten Reisehinweise für den Iran, das Wetter der kommenden Tage, wann die Schotten über ihre Unabhängigkeit abstimmen werden (ach, wie muss es uns vor vier Tagen langweilig gewesen sein auf dem Rad, dass uns diese Abstimmung in den Sinn gekommen ist), die Höhe der nächsten Pässe, ab wann wir uns den nächsten Hobbitfilm anschauen können, die Adresse eines Fahrradladens hier in Yerevan. Unentbehrliches und Unterhaltsames. Eine gute oder eine schlechte Entwicklung? Sicher, das Internet vermittelt uns manchmal das Gefühl, dass alle Abenteuer schon gelebt, alle Plätze auf der Erde schon bereist wurden. Überall verfügbare Informationen und die Medialisierung von Zwischenfällen mit Reisenden prägen unbewusst auch unser Reiseverhalten.

Irgendwo auf der Strecke zwischen Georgien und Armenien haben wir uns neben der Strasse zum Zelten ins Unterholz verkrochen. Unsichtbar, garantiert. Kein Taschenlampengebrauch mehr nach Einbruch der Dunkelheit. Als wir schon eingeschlafen sind, weckt uns das Scheinwerferlicht eines Autos. Direkt vor unserem Zelt. Es muss das Bachbett hochgefahren sein, wir haben nichts gehört. In einem solchen Moment ziehen negative Schlagzeilen wie Wetterleuchten an uns vorbei. Blödsinnig eigentlich. Nach all den positiven Erfahrungen unserer Reisejahre. Kopflos suchen wir zuerst nach dem Pfefferspray, anstatt uns eine Hose anzuziehen. Es ist die Polizei. Keine Ahnung, wie die uns entdeckt haben. Ob alles OK sei und einen schönen guten Abend wünschen sie uns. Das war's. Die Nacht ist gelaufen. Wir liegen stundenlang wach, mit irgendwelchen Schauergeschichten aus Internetblogs im Kopf.

Wir kennen immer mehr Geschichten von Reisenden, denen wir nie selber begegnet sind. Ihre Erfahrungen können abschrecken, aber öfters profitieren wir davon. Heute radeln wir Strecken, auf die sich ein Radfahrer der Achtzigerjahre nie eingelassen hätte. Die Informationsbeschaffung wäre zu anstrengend gewesen, zu ungewiss die Versorgung, der Streckenverlauf, die Risiken. Über das Netz erfahren wir Hintergründe über ein Land, welche uns von Regierung und Bevölkerung verschwiegen worden wären, und die uns zum kritischen Hinschauen animieren. Das erste e-mail, welches uns nach unserer Ankunft in Yerevan entgegen flattert, kommt von Amnesty International. „Geht gar nicht, Herr Putin!“ lautet der Betreff. Es geht um die kommenden olympischen Spiele in Russland und um die Unvereinbarkeit mit getretenen Menschenrechten.

Das Mail interessiert uns. Obwohl wir nicht in Russland unterwegs sind, sind wir doch nah an der russischen Kultur dran. Ex- Sowjetische Ortsbilder begleiten uns, seit wir die Türkei verlassen haben. Vor allem auf dem Land, aber auch in kleinen Städten ist die russische Vergangenheit immer noch gut spür- und sichtbar. Diese konservengleichen Plattenbauten, die langsam zerfallen, die gigantische Infrastruktur einer Supermacht, welche von Albanien bis China vor sich hinrostet. Die Generalstabskarten der UDSSR sind Grundlage der hübsch aufbereiteten Landkarte, welche wir in unserer Lenkertasche mitführen. Im Grenzgebiet zwischen Georgien und Armenien rattern raupenbetriebene Pflüge aus der Sowjetzeit über die Äcker, stehen die Kühe in den Ställen der Kolchosen, werden Mandarinen, Kürbisse und Kartoffeln in den unverwüstlichen UAZ Bussen zum Markt gefahren.

Die Regierung Georgiens arbeitet mit Feuereifer daran, diese Bilder zu löschen. Zumindest in den grossen Städten. In Batumi, Georgiens Vorzeigebadeort, spriessen im Zeitraffertempo durchdesignte Wolkenkratzer aus den verendenden Sowjetdinosauriern. Als wir die Stadt Richtung Norden verlassen, präsentiert sich uns eine Skyline, welche direkt aus Dubai hätte eingeflogen sein können. All diesem Drang nach Wandel fern scheint Swanetien im Kaukasus. Bevor der Winter hereinbricht, radeln wir eine Woche lang bei strahlendem Herbstwetter durch diese Region. Die Schatten der kaukasischen Fünftausender haben Dörfer und Menschen hier in einen Dornröschenschlaf versetzt.

Noch immer dominieren steinerne Wehrtürme aus dem Mittelalter die Ortsbilder, laufen die Schweine frei durch die Gassen, in Abfällen suhlend, um dann später nach Grossmutters Art am Stück aufgehängt und geräuchert zu werden. Während unserer Svanetien Tour halten wir uns daher lieber an Chatschapuri (Brot mit geschmolzenem Käse) und „Röschti zum Zmorge“, können es aber trotzdem nicht vermeiden, dass uns auch mal ein paar hartgekochte, feinsäuberlich geschälte Eier als Geschenk im Plastiksäckchen überreicht werden. Tja, die Swans mögen's halt deftig. Sie gelten als stolze und legendäre Krieger.

Unter den harten Lebensbedingungen im Gebirge führten die Sippen und Familien immer wieder Raubzüge durch, um zu erbeuten, was das Leben des Clans sichern konnte. Blutrache war bis ins letzte Jahrhundert ein ernsthaftes Thema und lange Zeit konnten sie sich erfolgreich gegen die Russen zur Wehr setzen. Ihre Türme, welche sie seit dem Mittelalter in Zeiten der Fehden und Raubzüge geschützt hatten, waren auch gegen die Russen von Vorteil. 1875, als in Svanetien ein Aufstand gegen die Zarenherrschaft ausbrach, konnte das russische Militär den Widerstand der Bevölkerung erst brechen, nachdem es einige der Türme samt Bevölkerung in die Luft gesprengt hatte. Ein standhaftes Völkchen. Fehlt nur noch der Rütlischwur. Tönt nach zu viel Mythos und Märchen? Klar, auch in Svanetien wird das Dornröschen vom Prinzen geküsst. In Ushguli, dem UNESCO geschützten Bergdorf auf 2100 Meter verbringt unsere Gastfamilie den Abend nicht mehr vor dem Fernseher, sondern mit Facebook. Mestie, das Zentrum der svanetischen Kultur hat ein modernes Skigebiet und ist drauf und dran ein zweites „Bariloche“ zu werden. Trotzdem, Svanetien war ein Highlight unserer bisherigen Reise, ganz bestimmt. Mal abgesehen vom Essen.

Mit dem Überqueren der Grenze zu Armenien wird die Landschaft flacher: Weite Hochplateaus, karge Hügel und Gegenwind begleiten uns bis Yerevan. Bei der Stadteinfahrt scheinen wir wieder Zeitzonen zu durchqueren: Am Rand das graue Vermächtnis der Russen, im Zentrum kolossale Rundbogenbauten aus Vulkangestein und synchrongesteuerte Wasserlightshows auf dem Republic Square. Es ist nicht nur das Internet, das die Welt verändert hat. Die Welt ändert sich überall. Jeden Tag. Schon immer.

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