Wüste und Bike, das sind zwei Dinge, die sich normalerweise schlecht vertragen. Schade, denn wir lieben Wüste. Unterwegssein in absoluter Stille, nur den Wind und den eigenen Atem im Ohr, monochrone Farben in Ocker- und Brauntönen, in denen ein Pflänzchen wie ein Wunder wirkt, Nächte ohne Lichtverschmutzung, sondern Schlafen unter der hellen Milchstrasse und unzähligen Sternschnuppen. Doch der Untergrund ist weich, stundenlanges Schieben unter der heissen Sonne verwandelt den Spassfaktor in einen stachligen Dornenzweig und aus einem Wüstenabstecher kann rasch eine handfeste Bike-Beziehungskrise werden. Wie also können wir unseren Wüstenhunger stillen, ohne die ganze Zeit innerlich zu fluchen?
„Google mal, was es für Wüsten auf der Welt gibt“, schlage ich vor. Und da haben wir sie plötzlich, die siebenundzwanzig wichtigsten Wüsten der Erde. Von der 9 400 000km2 grossen Sahara bis zur 12 000km2 kleinen Negev sind alle in der Liste vertreten. Raum genug für ein Bikepacking Abenteuer, nur eben - das Fluchen.
Doch mit ein bisschen mehr Recherche kommen wir dem Jordan und dem Israel Bike Trail auf die Spur. Dort scheint die Partnerschaft zwischen Wüste und Bike zu funktionieren und auch mit unserem Plan, Weihnachten wieder einmal zu Hause zu verbringen, harmoniert das Reiseziel. Ein kurzer Stop-over im Nahen Osten, zur Zeit sowieso eine Sackgasse, vor dem Weiterflug in die Schweiz. Vierundzwanzig Stunden später sitzen wir im Flugzeug nach Amman.
Aber Jordanien - ist das nicht gefährlich? Eingeklemmt zwischen den Bürgerkriegsländern Syrien und Irak im Nordosten, eingegrenzt von den Sorgenkindern Saudi-Arabien, Palästina und Israel im Südwesten? Auffanglager von mehr als einer Million Flüchtlinge? Nein, Jordanien ist sicher. Dem Land ist es trotz den Herausforderungen der Gegenwart und der schwierigen Lage im Nahen Osten gelungen, seine Strukturen aufrecht zu erhalten. Leider wissen das nur wenige und so leidet Jordanien unter einem massiven Rückgang an Touristen. Die Schlange am Schalter für ein Touristenvisum im Queen Alia Airport ist kurz. Nur ein paar junge Rucksackreisende und wir selbst stehen da.
Amman gleicht nicht gerade einer Stadt aus einem arabischen Märchen. Mit abgasgeschwängerter Luft, Abfallbergen in den Abwasserrinnen und einem riesigen Verkehrschaos auf den Strassen, befindet sich Amman eindeutig im 21. Jahrhundert. Und doch finden wir wenig später beim Herumschlendern in Downtown ein paar Überbleibsel aus vergangenen Tagen: Duftmischer, die ein ganz persönliches Parfüm aus Hunderten von durchsichtigen Glasflakons zusammen mischen, um dann den Kunden und andere vorbeieilende Passanten grosszügig damit einzunebeln. Saftverkäufer, die Granatäpfel und Zitronen, Mangos und Melonen mit ihren vorsintflutlichen Pressen zu leckeren Fruchtsäften mixen, Kuriositätenläden, die nebst Bergen von Gewürzen auch das eine oder andere vertrocknete Mäuseskelett oder heiliges Wasser aus Mekka in der zehn Liter Gallone an den Mann zu bringen versuchen. Und über allem schallt der scheppernde Ruf des Muezzins von der nächstgelegenen Moschee, der die Gläubigen zum Abendgebet ruft. In Amman mischen sich Vergangenheit und moderner Alltag einer arabischen Grossstadt.
Nach einem ausgiebigen Frühstück mit Falafel, Hummus, Pitabrot und süssem Schwarztee mit frischen Minzeblättchen sind wir startklar. Mit vollen Wasserflaschen und Proviant für zwei Tage suchen wir uns den Weg hinaus aus der Stadt und in ruhigere Gegenden. Immerhin sind wir ja auf der Suche nach Wüste und Einsamkeit. Die Sonne knallt vom Himmel und der Wind bläst uns mit voller Kraft ins Gesicht. Gerade letzteres wird sich während der nächsten vier Wochen kaum jemals ändern und wir nehmen uns vor, das Thema „vorherrschende Windrichtung“ bei der nächsten Routenplanung nicht zu vergessen. Bald liegen die letzten Aussenquartiere hinter uns und wir biegen auf eine schmale Piste ab, die uns auf den von Norden her kommenden Jordan Bike Trail führt.
Der Jordan Bike Trail. Er erfüllt unsere Erwartungen nicht ganz. Vielleicht sind wir einfach zu anspruchsvoll geworden, doch wir werden das Gefühl nicht los, dass mehr Potential für eine Bikepackingroute in Jordanien stecken würde als uns dieses GPX file zeigt. Entwickelt wurde er von einer auf geführte Biketouren spezialisierten Reiseagentur, und das merkt man dem Trail an. Langweilige Strecken auf asphaltierten Hauptstrassen, meistens Anstiege, die wohl bei den geführten Touren per Fahrzeug zurückgelegt werden, wechseln sich ab mit tollen Abfahrten auf ruppigen Pisten. Jordanien besteht aus einer Hochebene und einer zerklüfteten Steilwand, die von knapp tausend Meter ins Jordantal und ans Tote Meer auf minus vierhundert Meter hinunter stürzt. Tief eingeschnittene Wadis schneiden ins Hochplateau und obwohl unsere Route auf der Karte in ziemlich direkter Linie nach Süden führt, sieht die Realität anders aus. Auf fünfzig Kilometer langen Tagesetappen kumulieren sich rasch mehr als tausend Höhenmeter. Doch als „ Very Hard“ oder sogar „Extreme“ empfinden wir keine der Strecken, eher ein bisschen mühsam, wenn mir mehrmals täglich in eines der tiefen Wadis hinunter sausen, um uns dann wenig später auf der gegenüberliegenden Seite wieder aufs Plateau hochzuarbeiten. Wir haben halt keinen Begleitbus, der im Tal unten mit einer eisgekühlten Cola auf uns wartet... Erst gegen Süden hin finden wir schliesslich eine Piste, die für längere Zeit als spektakuläre Kammstrasse der Höhenlinie folgt und uns schliesslich ins weltbekannte Wadi Rum führt.
Ja, das Wadi Rum. Es wäre schön, wenn bloss nicht so viele in diesem „Wadi Rum“ fahren würden... Das Oasendorf selbst ist eine herbe Enttäuschung. Bauruinen, herumwirbelnder Abfall wie überall im Land, Endzeitstimmung. Wieder einmal fragen wir uns, in welcher Tasche das Eintrittsgeld vom UNESCO Naturerbe wohl landet. Ganz sicher nicht bei der lokalen Bevölkerung und im Aufbau von Infrastruktur (abgesehen vom gigantischen Besucherzentrum am Eingang des Tals). Jeder der hier ansässigen Beduinen hat die Ladefläche seines Toyota Pickups mit zwei Holzbänken ausgestattet, irgendwo in der Wüste ein Camp mit Dieselgenerator und LED Beleuchtung aufgestellt und karrt nun wüstenhungrige Touristen durch das Naturdenkmal. Zerstört wird dabei nicht nur eine alte Lebensweise, sondern auch eine empfindliche Vegetation, die sich kaum je wieder vom intensiven Jeepverkehr erholen wird. Als wir am Ende der Teerstrasse und am Rand der Wüste stehen, kommt ein charismatischer junger Beduine auf uns zu. „Ihr könnt nicht mit dem Fahrrad dort rein, das ist viel zu schwierig. Bucht lieber eine Tour, ich kann euch mit dem Auto noch heute Abend in mein Camp bringen“, schlägt er vor und als wir höflich den Kopf schütteln, während wir etwas Luft aus unseren Reifen lassen, um auf dem weichen Untergrund fahren zu können, schiebt er nach: „Am Ende eures Lebens werdet ihr merken: Es zählt nicht das Geld, sondern die gemachten Erfahrungen!“ Jetzt müssen wir lachen. Diese Masche zieht bei uns nicht, oder jedenfalls nicht so, wie sich das der junge Beduine wünscht. Ja, es geht nicht ums Geld, sondern um die Erfahrung. Genau das ist der Grund dafür, dass wir seit mehr als vier Jahren mit dem Velo um die Welt reisen.
Immer noch grinsend folgen wir den Fahrspuren in die Wüste hinein. Ziemlich schnell knabbern erste Konflikte an der bisher harmonischen Beziehung zwischen Bike und Wüste. Trotz fast platten Reifen kommen wir ins Schleudern und finden uns bald schiebend wieder. Schieben durch weichen Tiefsand, das knabbert auch an unserer eigenen Beziehungsfähigkeit und erste gemurmelte Flüche kommen über die Lippen. Dieser ver... Sand! Je näher wir aber den Bergen kommen, desto mehr verfestigt sich der Untergrund wieder und mit etwas Balance gelingt es uns, uns wieder im Sattel zu halten. Auf einer kleinen Anhöhe mit einem fantastischen Blick über die Sandsteinfelsen im rostroten Sand schlagen wir unser Camp auf. Die Abendsonne verwandelt die Wüste in ein kitschiges Gemälde in Orange und Rosa, bevor die samtschwarzen Schatten der Nacht die Konturen verwischen und die ersten Sterne über uns erstrahlen. Wir fühlen uns, als wären wir alleine auf der Welt.
Mit der Stadt Aqaba erreichen wir das Rote Meer und queren dort die Grenze zu Israel. Ein kleiner Kulturschock. Wann waren wir das letzte Mal in einem derart modernen und hoch entwickelten Land? Als wir im 24 Stunden Supermarkt einkaufen, kommt ein Preisschock hinzu. Meine Güte, mit dem Betrag, den wir hier für ein einfaches Picknick ausgeben, reisen wir normalerweise zwei Tage! Etwas durchgeschüttelt von der Erkenntnis, dass wir wieder einmal auf die Seite der armen Schlucker gewechselt haben, fahren wir zum Start des Israel Bike Trails. Und sofort merken wir: Auch dieser spielt in einer ganz anderen Liga. Mit einem gewaltigen Aufwand wurde ein fast dreihundert Kilometer langer Singletrail durch die Negev Wüste angelegt. Uns bleibt vor Staunen und Begeisterung buchstäblich die Spucke weg. Auf einer schmalen Spur fahren wir durchs Niemandsland: Steinige Wadis, steile Felswände, über weite Ebenen, an Sanddünen und Akazienbäumen vorbei. Der Trail ist kunstvoll angelegt, mit kleinen Serpentinen und genau in der richtigen Steilheit, um noch fahrbar zu sein. Da waren Profis mit viel Herzblut am Werk, die zeigen, dass Wüste und Bike mehr als eine Zweckbeziehung eingehen können. Dieser Trail ist absolut genial und die Negev wunderschön!
Auch neben dem Trail ist es spannend Israel zu erleben. Ein Land, das wir vor allem aus den Nachrichten kennen und trotzdem abseits der Schlagzeilen erstaunlich wenig darüber wissen. Wir erleben, wie die Kibbuze, wo wir uns in den kleinen Läden mit Lebensmitteln versorgen können, durch einen mehrfachen Zaun und ein massives Eingangstor gesichert sind, videoüberwacht, fast wie in einem der Endzeitfilme aus Hollywood: In der Einöde steht ein kleines Dorf, massiv eingezäunt und grün, in dem sich die letzten Überlebenden einer Umweltkatastrophe zusammengefunden haben und sich gegen die feindliche Umwelt zu behaupten versuchen... Natürlich ist das Blödsinn, und doch wirken die Siedlungen so auf uns. Oder die Mauer zu Palästina. Zuerst als vierfacher Stacheldrahtzaun mit Minen-Warnschildern, dann als meterhohe Betonpfeiler durchschneidet sie das ganze Land und bildet damit ein unüberwindbares Hindernis auf dem Weg zu einer Versöhnung und damit einer friedlichen Lösung zwischen Palästinensern und Israeli. Und betroffen denken wir daran, wie in anderen Weltgegenden über den Bau von neuen Mauern diskutiert wird.
Als wir vom Toten Meer her kommend nach einem langen Aufstieg wieder das Plateau erreichen, liegt der schöne Teil des Israel Bike Trails hinter uns. Auf Feldwegen fahren wir ziemlich unspektakulär durch weites Agrarland, Obstbaumplantagen und Pinienwälder nach Jerusalem. Innerlich haben wir bereits Abschied vom Land genommen, traurig, dass der Trail durch die Negev schon vorbei ist. Doch Jerusalem wollen wir noch sehen vor unserer Abreise. Nirgendwo sonst auf der Welt begegnen sich drei Weltreligionen und ihre Monumente so nahe: Die Klagemauer der Juden, der Felsendom und die Al Aqsa Moschee der Muslime, die Grabeskirche der Christen. Und eine riesige Abzocke rundherum. Nach zwei Tagen in einer miesen Absteige fühlt sich unser Budget an, als wäre es in eine der zahlreichen Fruchtpressen geraten. Ausgequetscht bis auf die Schale und sauer wie ein Zitronen-Minzesaft ohne Zucker. Zeit für den Heimflug.
Nun sitzen wir „zu Hause“. Wenn wir durchs Fenster blicken, sehen wir Schnee, die Temperatur ist um rund dreissig Grad gefallen. Ans Preisniveau haben wir uns dank Israel bereits etwas gewöhnt. Und an alles andere? Das wird sich erst in den nächsten Wochen zeigen.
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