Japan: Mono No Aware

Mono No Aware. Jeder Moment ist fluechtig. Man kann die Zeit nicht anhalten, sie verfliesst und hinterlaesst Erinnerungen. Was bleibt und was geht vergessen, wenn man ein Land bereist hat und es verlaesst? Fetzen und Bruchstuecke nur, je weiter man sich entfernt, desto ungenauer werden sie. Man verliert Details und sieht dafuer die Umrisse. Klare Formen sind einfacher zu behalten als komplizierte. Vielleicht entstehen so Klischees. Man blendet aus, vereinfacht, schafft Mythen. Was erzaehlt man weiter?

Die Japaner lieben fluechtige Momente. Der gluehende Sonnenaufgang in der Landesflagge sollte Hinweis genug sein. Festgehalten, damit das Morgenrot nicht erlischt. Damit man sich immer an die Schoenheit des Tagesanfangs erinnern kann. Als wir in Tokyo ankommen, steht die Sonne am Himmel, als waere sie direkt aus Japans Fahne geschnitten worden. Wir fahren mit dem Zug Richtung Stadtzentrum. Reihenhaeuser, Wolkenkratzer, arbeitsmuede Gesichter. Eigentlich sind wir so sanft gelandet wie noch nie in einem Land. Ayakos Mutter hat uns direkt am Flughafen empfangen und uns perfekt durch das Gewuehl gefuehrt. Trotzdem stehen wir am Beginn eines Kulturschocks, der uns die naechsten sechs Wochen durch das Land begleiten wird. Wir haben uns mental darauf vorbereitet, aber das hat nicht gereicht. Er trifft uns mit voller Wucht.

So viele Leute. Endlose Strassenschluchten und alles laeuft automatisch. Elektronische Melodien aus allen Richtungen. Bei der gruenen Strassenlampe, im Supermarkt, auf der Toilette.
Nach wenigen Tagen haben wir ein beachtliches Repertoire zusammen. Was wir noch nicht wissen: Das ganze Land ist mit einem fast flaechendeckenden Lautsprechernetz ausgeruestet und puenktlich um sechs Uhr morgens, am Mittag und um fuenf Uhr abends schallt es aus jedem Trichter. Da kann man sich noch so sehr verkriechen, irgendwo toent es immer. Wenn dann noch voellig zusammenhangslose Lieder abgespielt werden wie "Frere Jaques" oder "Stille Nacht" und man dieselbe Melodie, welche gestern auf der Toilette gelaufen ist, ploetzlich am naechsten Tag im Supermarkt hoert, ist die Verwirrung perfekt.

Der Zug taucht in den Untergrund. Die Metro bringt uns fast bis vor die Tuere des Appartements welches uns Ayakos Familie zur freien Verfuegung gestellt hat. Welch ein gediegener Platz. Ein unglaublicher Ausgangspunkt fuer die naechsten Tage.
Die Daemmerung setzt ein. Von der Terasse aus bestaunen wir das erste Mal die flimmernden Leuchtreklamen und blinkenden Tower der Weltmetropole Tokyo. Wir haben in Japan keine zweite solche Abendstimmung erlebt. Jeder Moment ist fluechtig. Man kann die Zeit nicht anhalten, sie verfliesst und hinterlaesst nur Erinnerungen.

Die Kraniche in Kushiro tanzen ueber das verschneite Sumpfland. Feingliederig, elegant. Akrobatenkuenstler. Federleicht wirbeln sie hoch, landen sanft und mit einer perfekten Verbeugung, werfen ihre Haelse zurueck. Ein Kranichtanz ist Musik. Kein anderes Tier vermag es, dem Augenblick so viel Schoenheit abzugewinnen. Die Japaner lieben die Schoenheit fluechtiger Momente. Vielleicht ist darum der Kranich in Japan heilig.

In Japans Norden und damit in den tiefen Winter zurueckzukehren, hat uns viel Ueberwindung gekostet. Vor allem, nachdem wir in Tokyo so fruehlingshaftes Wetter genossen haben. Wir haetten Japans Bestes verpasst. Nicht nur die Kraniche, sondern auch die Singschwaene, welche direkt neben der heissen Quelle ihr Winterquartier bezogen haben. Oder das umwerfende Panorama im Shiretoko Nationalpark. Auch die gigantischen Eisskulpturen am Sapporo Schneefestival waeren ohne uns zerschmolzen.

Jedes Jahr erwacht die Millionenstadt Sapporo mitten im Winter aus der Kaeltestarre. Aus Schnee- und Eisbloecken werden meterhohe Statuen und Haeuser geschnitten und internationale Teams wetteifern um die kunstvollste, von Hand gearbeitete Schneefigur. Die Stimmung ist heisser als der Sake, welcher an den Staenden ausgeschenkt wird und am Abend ruecken gleissende Schweinwerfer die ganze Pracht ins Rampenlicht. Ein Megaspektakel, dem wir drei Tage lang unsere volle Aufmerksamkeit schenken und der durch die Gastfreundschaft von Motokos Familie und Michi aus dem International Center noch versuesst wird. Sie fuehrt uns zusammen mit ihrer Freundin in die Moving Sushi Bar, ein Sushirestaurant, auf dem das Essen per Foerderband an einem vorbeizieht. Es gibt nur wenige Orte auf der Welt, die dem Hunger von Radlern gerecht werden koennen. In unseren Erinnerungen sind es nur zwei. Die "all you can eat" Pizzeria auf unserer letzten Reise in Brasilien und nun dieses vollautomatische Schlemmerland. Schoene Momente moegen zwar vergaenglich sein, aber man kann sie ausdehnen und zelebrieren. Und darin sind die Japaner Meister.

Es dampft im Bad. Das heisse Wasser plaetschert beruhigend, weicht die angespannten Muskeln des Velotages auf. Neben mir seift sich ein Japaner ein. Bedaechtig: Zehen, Waden, Bauch, Arme, Fingerspitzen. Als er beim Kopf ankommt, habe ich schon zwei Vollbaeder genommen und mir die Haare gewaschen - und ich habe mir Zeit genommen.

Das Teeritual dauert jetzt schon zehn Minuten. Jede Bewegung ist durchdacht. Das Zusammenfalten der Serviette, mit dem der Teemaster den Rand der Tasse abgewischt hat, folgt einem strengen Plan. Endlich wird die erste Tasse gefuellt. Faszinierend.

Ein bluehender Baum ist etwas wunderschoenes. Nach einem langen Winter die erste rosarote Bluete zu sehen, den suessen Duft zu riechen, zuzuschauen wie die Bienen zwischen den Blueten herumfliegen. Zur Zeit der Kirschbaumbluete nehmen sich die Japaner eine Woche frei. Um den Moment zu geniessen.

Die Japaner lieben fluechtige Momente und darum versuchen manche, diese zu kopieren. Die japanische Vorliebe fuer die Farbe Pink ist ein solcher Versuch. Manchmal ist es richtig schrill. Ein Jugendlicher laeuft cool herausgeputzt durch die Gassen und an seinem Guertel haengt ein pinkiges Natel. Wenn ich noch einmal nach Japan fahren wuerde, dann wuerde ich mir vornehmen all diese pinkigen Gegenstaende, Acessoires und Modeartikel zu fotografieren, die es hier gibt. Pink ist die Farbe der Pflaumenblueten. Die Pflaumen bluehen noch vor den Kirschbaeumen. Sie bezeichnen das Ende des Winters und der Beginn der warmen Jahreszeiten. Warum also nicht das ganze Jahr ueber Pink tragen? Das Wangenrouge, die Handtasche, der Laptop oder die Sonnenbrille erinnern dann fuer immer an die Suesse der bluehenden Pflaumenbaeume.

Die erste Pflaumenbluete sehen wir in Kyoto. Ein kleines Ereignis fuer uns. Die Welt beginnt wieder zu leben. Nach vier Monaten tiefstem Winterschlaf. Wir sind ueberwaeltigt von den Geruechen rings um uns. Es duftet wieder nach jungem Laub, nach Erde, nach Fruehling. Vielleicht ist es ein bisschen so wie damals, als wir nach langer Zeit aus dem bolivianischen Altiplano hinunter in den Dschungel gefahren sind. Das Gruen empfindet man als noch gruener, die Welt ist ploetzlich wieder bunt. Welch eine Wonne, als uns die erste Muecke in die Augen fliegt. Ehrlich. Solche Momente sind unausloeschlich, weil sie mit starken Gefuehlen verbunden sind. Am naechsten Tag schicken wir unsere Spikesreifen nach Hause.

In Kyoto koennte man rasch ein Vermoegen ausgeben, um all die Top UNESCO Weltkulturerbe zu bewundern. Viele Tempel werden von den Touristen richtig umgerannt. Je teurer sie sind, desto mehr Leute hat es. Den weltberuehmten goldenen Pavillon zum Beispiel koennen wir zwischen den Menschenmassen nur erahnen.
Wir brauchen einige Tage, bis wir finden, was wir uns vorgestellt haben. Tempel und Schreine, welche zwar in der historischen Rangliste nicht ganz oben stehen, aber Ruhe und Stimmung ausstrahlen. Und so entdecken wir die Zen Gaerten. Landschaften aus Stein und Sand. Statische Kunstwerke, still wie ein Schwarzweissfoto und kraftvoll wie ein dreidimensionales Gemaelde.

Stell dir vor, das Wasser ist trocken. Es fliesst in einem Strom aus Kieselsteinen von einem Berg herunter ins Meer. Auch das Meer besteht aus Kieselsteinen. Weissen runden Kieselsteinen. Mit einem grossen Holzrechen sind gleichmaessige Linien ins Steinmeer gezogen. Abstrakt - und dennoch kann man sich die Quelle, den Fluss und das Meer sofort vorstellen. Man spuert die Weite des Ozeans, den langen Weg, welches das Wasser von seinem Ursprung bis ins Meer zuruecklegt. Auf dem Weg vom Berg ins Meer begegnet der trockene Steinfluss der Schildkroete. Sie schwimmt gegen den Strom. Auch sie ist nur ein Stein, ein Symbol. Der Steinfluss ist der Strom des Lebens und die Schildkroete versucht dagegen anzukommen, gegen die Zeit zu schwimmen. Der Vergaenlichkeit des Moments zu entkommen.

Japanische Steingaerten sind Meditationsoasen der Zen Buddhisten. In den Gaerten, die wir besuchen, gilt Fotoverbot. Es waere auch schwierig, diese Plaetze, welche selber schon wie ein Bild erscheinen, noch einmal in ein Bild zu packen. Es wuerde keinen Sinn machen. Es waere wie das pinkige Natel an der Seite des coolen Jungen, das halt eben hoechstens die Farbe und noch nicht einmal den Duft der Pflaumenbluete einfaengt.
Ein Tief haengt ueber Japan. Wir fahren im Regen, er weicht uns auf und tropft sich einen Weg in unsere Koepfe. Bald ist das Tief nicht nur um uns, sondern auch in unseren Gedanken. Ein Kulturschock kann heftig sein, kann einem krank machen. Was suchen wir hier in Japan, wo das Leben in starreren Bahnen laeuft als bei uns zu Hause? Wo man zuerst stundenlang vor der Landkarte sitzen muss, um irgendwie einen Weg abseits der Schnellstrassen und Millionenstaedte zu finden? Wo an jeder Ecke ein Supermarkt steht, der vierundzwanzig Stunden lang warmes Essen liefert? Beinahe haette der Regen unsere schoenen Momente weggespuelt, die wir in Japan erlebt haben. Beinahe. Doch nach drei Tagen ist die Sonne wieder aufgegangen und hat alle grauen Wolken und die Naesse weggeputzt.

Es ist Morgen. Ein Vogel zwitschert. Wir wissen, dieser Moment haelt nicht ewig. Bald wird die Daemmerung vorbei sein und der Vogel verstummen. Bald werden wir aufstehen und in einen neuen Tag hineinradeln. In einigen Wochen wird das Vogelgezwitscher am Morgen wieder alltaeglich sein. Doch nun liegen wir hier und geniessen den Moment. Er ist einmalig. Die Japaner lieben solche Momente. Das Gefuehl, welches man empfindet, wenn man die ergreifende Schoenheit fluechtiger Augenblicke auf sich wirken laesst. Sie haben ihm einen Namen gegeben, um es nicht zu verlieren: Mono No Aware.

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