Wilder Westen der USA

Die USA - Kaum ein anderes Land scheinen wir so gut zu kennen, ohne es je vorher selbst bereist zu haben. Die gelben Schulbusse - "Forest Gump" -, die Zeitungsbriefkästen - wir grinsen beide, als wir uns an die Szene in "Während du schliefst" erinnern, wo der Zeitungsjunge das Glatteis mit dem Vorderrad seines Velos erwischt und mit einer gekonnten Bruchlandung über den Lenker fliegt -, die Lichter und Leuchtreklamen von Las Vegas - Schauplatz für den grossen Coup der Gangster von "Ocean's Eleven". Wir kennen das Land aus unzähligen Hollywood Filmen, aus der täglichen Berichterstattung in den Medien, von Marken und Ladenketten, die es um die Welt geschafft haben. Doch was davon ist Klischee, was Realität?

Wir sitzen im McDonald. Auf dem kleinen Plastiktisch liegen zwei Bigmac Menus und der Kassenzettel. 6.99$ hat uns das Mittagessen gekostet, dazu können wir unsere Becher so oft auffüllen, wie wir wollen. A good deal - und dazu noch free wifi. Wenn wir durchs Fenster blicken, sehen wir die blinkenden Lichter und die Touristenmassen, die sich durch die Freemont Street pressen. Fast ein bisschen Kulturschock nach dem einsamen und wilden Alaska - und irgendwie nicht ganz so bombastisch und abgefahren, wie wir uns Las Vegas nach den Filmbildern vorgestellt hatten. Aber immerhin besser als Alaska, denn dort würde es nun regnen, die Schneeschmelze die Strassen in kleine Schlammbäche verwandeln, alles wäre nass, dreckig und unfreundlich - Mud season. Nichts, was uns gereizt hätte und darum sitzen wir nun hier in der Wüste von Nevada. So schnell kann man dem Klima ein Schnippchen schlagen.

Wie eine Klapperschlange ihre zu enge Haut haben wir die dicken Handschuhe, die doppelte Thermounterwäsche, die Winterstiefel und die dicken Schlafsäcke abgestreift. Alles heimgeschickt, in einem zwölf Kilogramm schweren Paket. Erst jetzt beginnt unsere Bikepacking-Ära richtig. Wir sind leicht unterwegs, mit je unter fünfzehn Kilo Gepäck scheinen wir auf dem Highway, der uns aus Las Vegas hinausführt, über den Asphalt zu fliegen. Und trotzdem haben wir immer noch alles dabei, was es zum Unterwegssein braucht. Ein Zelt, Campingmatten, Schlafsack, Benzinkocher mit Pfanne, eine lange und eine kurze Kleidergarnitur, Thermowäsche, Fleecepulli, Daunenjäckchen, Regenausrüstung. Dazu Velowerkzeug, einen Ersatzschlauch, diverse Kabel- und Ladegeräte für Kameras und Tablet, Kulturbeutel und eine Miniapotheke. Und nicht zu vergessen: Die Rahmentasche gefüllt mit Proviant für vier Tage.

Nachdem wir die berühmten Nationalparks Zion und Bryce während der Jubiläumswoche gratis besuchen konnten, besinnen wir uns auf unsere Überzeugungen zurück: Lieber selber Highlights entdecken, als hundertmal gesehene Sehenswürdigkeiten knipsen, abseits der Touristenströme reisen, kein Geld für Landschaften und Natur zu bezahlen. Das Staircase-Escalante National Monument in Utah wird für uns zum Beweis, dass wir mit dieser Einstellung auch in den Staaten auf dem richtigen Weg sind. Tiefe Schluchten, farbenfrohe Canyons, ockerrote Tafelberge, eine ruppige Erdpiste, die mitten hindurch führt - und wir ganz allein. Es könnte die Kulisse eines Westerns sein.

Wir campieren auf dem Alstrom Point. Von einer steilen Klippe herab blicken wir über die unzähligen Buchten des Lake Powell und weiter bis ins Monument Valley. Die letzten Sonnenstrahlen färben die Felsen und Tafelberge noch röter, die Seeoberfläche noch dunkelblauer. Ein paar Fische springen nach Mücken. Wassertropfen zerplatzen golden im Abendlicht, kleine Kreise verlieren sich im Wasser, als der Wind auffrischt.

Am nächsten Tag geht es über die steile Smokey Mountain Road hinauf auf ein Hochplateau. Sogar mit unseren leichten Bikes kommen wir nicht darum herum, die steilsten Stücke zu schieben. Oben angekommen wechselt die Vegetation. Es ist kühler und duftet intensiv nach dem Harz der Wachholderbäume. Knorrig und verwachsen, die Rinde aufgerissen und spröde, behaupten sie sich gegen das wüstenhafte Klima und den immerwährenden Wind. Sie kommen uns vor wie Baumpioniere, gezeichnet von der unbarmherzigen Natur und dem harschen Klima. Trotzig harren sie aus, lassen sich durch alle Widrigkeiten nicht vertreiben. Sie erinnern uns an die ersten Siedler, die dieses Land für sich entdeckt haben.

Mit einer ruppigen Abfahrt durch den Collet Canyon erreichen wir die Hole-in-the-Rock Road, den historischen Weg, den die Mormonen mit ihren Planwagen genommen haben. Erstaunlich, wie ihre Scouts einen Weg durch dieses unwirtliche und labyrinthische Land finden konnten. Erstaunlich auch, dass dies kaum mehr als hundert Jahre her ist. Vorher war dies Indianerland, keine Strassen, keine Siedlungen, nur weite grandiose Wildnis. Harte Arbeit, Durchhaltewillen und manchmal auch eine gehörige Portion Brutalität haben das Land verändert und es urbar gemacht. Wir verstehen, dass die Amerikaner stolz darauf sind, es wäre, wie wenn unsere Grosseltern Bern gegründet hätten.

In einer grossen Wasserröhre verstecken wir unsere Bikes, laden ein Picknick und zwei Liter Wasser in den Rucksack und machen uns zu Fuss auf zum Zebra Slot Canyon. Die ersten fünfzig Meter steht uns das schlammigbraune Wasser bis zur Brust, doch danach steigt der Boden an und wir klettern über den porösen Sandstein in den engen Gang und in eine zauberhafte Welt hinein. Die Wände stehen so eng, dass wir kaum hindurchpassen. Weit oben sehen wir als blaues Band den Himmel und ein paar weisse Federwolken. Im dämmerigen Licht leuchtet der gestreifte Felsen in warmem Braun, Orange, Rot und Beige. Das durchfliessende Wasser hat den weichen Stein in Jahrhunderten zu eleganten Kurven und sanften Formen geschliffen. Nach dem Mittag wird es kälter im Canyon und wir machen uns auf den Weg zurück ins Sonnenlicht. Auf dem Plateau über dem engen Kamin lassen wir uns von der Sonne trocknen und bestaunen fasziniert, die zu Hunderten herumliegenden Moqui Marbels. Perfekt runde Kugeln aus Sandstein und Eisen in allen Grössen.

 

Über das Lockhart Basin und den Kokopelli Trail erreichen wir Fruita in Colorado. Dort erwartet uns Penny, ein Warmshower Host. Hier in den USA machen wir zum ersten Mal häufiger von der Internetplattform Gebrauch, die Veloreisende und velobegeisterte Gastgeber miteinander verbindet. Nicht nur, weil unser Reisebudget das hiesige Preisniveau nur schwer verkraftet, sondern auch weil uns die kulturelle Herausforderung immer mehr fehlt. Das Leben in den USA ist unserem eigenen in Europa so ähnlich, dass wir uns manchmal schon etwas zu langweilen beginnen - obwohl wir immer wieder über die Offenheit und Hilfsbereitschaft der Amerikaner staunen. Sitzen wir irgendwo am Strassenrand und machen Pause, dauert es nie lange, bis jemand anhält und fragt, ob wir Hilfe brauchen. Vor dem Supermarkt sprechen uns immer wieder Wildfremde an und reagieren mit Begeisterung auf unsere Geschichte. Neigen sich unsere Wasservorräte langsam dem Ende entgegen, finden wir bestimmt jemanden, der uns die Flaschen wieder auffüllt. Fragen wir auf einem Zeltplatz, ob wir unser Zelt zu einem Wohnmobil stellen dürfen, um die Zeltplatzgebühr zu sparen, werden wir kaum je abgewiesen. Wildfremde fahren uns hundert Kilometer im Jeep, als wir auf einem Trail mit einer Lebensmittelvergiftung zu kämpfen haben und abbrechen müssen, auch, wenn ihr Weg in die andere Richtung gegangen wäre. In einem Motel übernachten wir zum halben Preis. Für uns stehen diese Begegnungen in krassem Widerspruch zu all den "no trespassing - keep out" Schildern, die wir tagtäglich zu Gesicht bekommen und auch zu der ansonsten sehr kapitalistischen und geregelten Gesellschaft.

Penny ist ein Glückstreffer. Während eines Jahres ist sie gemeinsam mit ihrem Mann in Südostasien vom Arbeitsleben in den Ruhestand geradelt und versucht nun hier in Fruita heimisch zu werden. Sie kennt die Hochs und Tiefs des Reiselebens, sie ist interessiert und aktiv. Wir verbringen die Tage mit spannenden Gesprächen zu den unterschiedlichsten Themen und am Abend gucken wir Kinofilme auf Grossbildschirm. Wir geniessen es, nach langer Zeit wieder einmal ein Bett und ein Dach über dem Kopf zu haben und Gespräche zu führen, die über die alltägliche Oberflächlichkeit hinausgehen. Der Abschied fällt uns nicht leicht, als wir uns auf dem Tabougache Trail weiter Richtung Osten aufmachen.

Utah war für uns ein landschaftliches Highlight. Als wir die Grenze zu Colorado überqueren, enden jedoch die bizarren Wüstenlandschaften. Wiesen im Bergfrühling - es könnte auch im Berner Oberland sein, dichte Wälder mit Eichhörnchen und Waldameisen - ein Kurztrip im Graubünden. Schotterpisten, die auch durch die heimischen Alpen führen könnten. Wir hinterfragen unsere weiteren Pläne. Wollen wir wirklich die nächsten drei Monate die Great Divide Mountain Bike Route fahren, die sicher schön ist, aber halt auch sehr an zu Hause erinnert? Wir haben bei der Einreise ein Jahresvisum erhalten, doch wollen wir wirklich so lange in Nordamerika bleiben? Gibt es nicht noch Ecken auf der Welt, die uns mehr reizen und uns auch kulturell herausfordern?

Wir beschliessen eine Schlaufe über New Mexico zu fahren und danach der Great Divide eine Chance zu geben - zumindest so lange bis wir den ersten Bären sehen. Was danach kommt, steht in den Sternen

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