Ein Land endet, ein anderes beginnt. Wo verlaeuft die Grenze? Ein reissender Fluss, ein hohes Gebirge. Wilde Gegenden, schoen und unberuehrt. Einsam.
Oft kann man sich in diesen Gebieten nicht frei bewegen. Will man nicht illegal die gruene Grenze ueberschreiten, bleibt man an einer unsichtbaren Linie haengen. Ein Land endet, ein anderes beginnt. Grenzland.
In Zentralasien verlaufen Grenzen nicht immer logisch. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden sie am Reissbrett neu gezogen, Laender erfunden, wo es vorher keine gab. Schaut man sich das Fergana Tal an, findet man fremde Landteile im eigentlichen Land. Auf der Karte zeigen Pfeile die Zugehoerigkeit von solchen Landstueckchen. Grenzen verlaufen rund um eine Stadt oder mitten durch eine Ebene. Solche Grenzen werden schnell ueberschritten, das Hindernis besteht nur auf dem Papier. Voelker werden zerschnitten. Sie lassen sich nur schwer in ein Nationaldenken pressen, halten an ihren alten kulturellen Grenzen fest. Ein ideologisches Pulverfass, jederzeit bereit um in die Luft zu fliegen.
Auch der Grenzuebergang bei Korgas, im aeussersten Nordwesten Chinas liegt mitten in der Schwemmebene des gewaltigen Ili Flusses. Die Grenze ist menschengemacht. Ein hundert Meter breiter Korridor aus Eisen und Stacheldraht. Auf den letzten Kilometern vor der Grenze stehen kleine Lehmhuetten. Verschaemt ducken sie sich neben der Haupststrasse. Viele Autofahrer werden sie uebersehen, den Blick schon auf die protzigen Hochhaeuser gerichtet, welche Korgas zur chinesischen Vorzeigestadt machen sollen. Die erste chinesische Stadt, wenn man von Kasachstan nach China reist, die letzte Stadt, wenn man China verlaesst. Ein modernes China soll in Erinnerung bleiben. Die Lehmhuetten sind ein Fauxpas. Wenn die chinesische Regierung wuesste, dass sie trozdem jemandem aufgefallen sind, wuerden sie vielleicht abgerissen. Auf jedem Dach flattert eine rote Fahne. Sind sie von der Regierung so angeordnet worden? Stehen sie da, um die Uiguren und Kasachen, die hier leben, daran zu erinnern, auf welcher Seite sie stehen? Oder wurden sie aus freien Stuecken hier hingestellt? Um nicht ein Niemand im Niemandsland zu sein, um zu zeigen, dass auch solche Huetten noch zu China gehoeren?
Am Grenzzaun stehen Lastwagen kreuz und quer vor einer Schranke und auch die Menschenschlange ist chaotisch und ungeordnet. Jeder versucht sich irgendwie durch den einzigen ein Meter breiten Durchlass zu quetschen, um vor dem naechsten Abend wenigstens die eigentliche Zollabfertigung zu erreichen. Wir kommen um acht Uhr Morgens an. Ein sturzbetrunkener Zoellner steht auf dem Wachhaus, schwingt eine Kette in der Luft und bruellt in die Menschenmenge. Wir sind fassungslos. Es dauert eine Stunde bis wir ueberhaupt herausgefunden haben, dass auch wir mit den Fahrraedern durch das Menschen- und nicht durch das Fahrzeugtor muessen. Kurz vor der Mittagspause haben wir uns durchgepruegelt und kriegen den Ausreisestempel in den Pass geknallt. Den Eisenkorridor duerfen wir nicht per Rad befahren. Die hundert Meter im offiziellen Shuttlebus nach Kasachstan kosten uns zehn Dollar pro Person. Die Haelfte davon geht vor unseren Augen an den naechstbesten Zollbeamten.
Es ist Nachmittag als wir in die kasachische Steppe hinausradeln. Die Luft flimmert, der Schweiss zeichnet ein weisses Salzmuster an den Hutrand und auf den T-shirt Ruecken. In der Hitze platzen Gedanken, durchbrechen die Monotonie der Landschaft. Zeit zum Zurueckschauen...
Noch auf dem tibetischen Plateau war es, als wir Christian kennen gelernt haben. Er ist von Deutschland aus gestartet, durch die Ukraine, Russland und Kasachstan gefahren. Vom Amnye Machen aus sind wir dann zu dritt weitergeradelt, dem Qinghai See entlang, bis uns die Polizei das erste Mal stoppte. In einem bewachten Pickup wurden wir bis zur Provinzgrenze gestellt. Vage Gruende. Militaerische Sperrzone. Alle Fragen haben die Situation nur verschlimmert. Auf dem Satellitenbild finden wir spaeter weiter westlich ein riesiges weisses Loch. Eine gigantische offene Asbestmine. China unterhaelt eines der groessten Strafgefangenennetze der Welt. Bis zu vier Jahren darf die Polizei hier Leute ohne Gerichtsurteil zur “Umerziehung durch Arbeit” in die Minen schicken. Das Land hat zu viel zu verstecken. Die Welt verschliesst die Augen davor.
Ein Tal voller Sandduenen. Wolken ziehen auf, es regnet in der Wueste. Dann Einoede, lebensfeindlich. Wir legen uns groessere Trinkflaschen zu, hoffen auf Rueckenwind, der nicht kommt. Ueberreste der grossen chinesischen Mauer. Hier war das Reich der Mitte zu Ende, hat die weite Reise in den Westen begonnen. Die Seidenstrasse. Heute ziehen Lastwagenkarawanen auf einer Autobahn in die gleiche Richtung. Verwitterte Erdhaufen lassen die alten Wachtuerme kaum mehr erahnen, die hier einmal den Weg gesichert haben. Schattenlose Weite. 150 Kilometer pro Tag.
Wir radeln hoch. Der Tien Shan reicht hier bis in die Wueste hinein. Es hat abgekuehlt, wir zelten unter duftenden Tannen. Wasser im Ueberfluss. Sommerblumen ueberall. Noch einmal erreichen wir 4000 Meter, Gletscher und Schneefelder. Am Morgen wandern wir auf einen der nahen Gipfel. Harte Zacken auf weiche Wolken gebettet. Berge im Himmel. Himmelsgebirge.
Der Radleralltag schleicht sich ein: Aufstehen, Instandnudeln kochen, Maettchen, Schlafsack und Zelt zusammenpacken. Eine Pause nach den ersten dreissig Kilometern. Die Strecke zieht sich. Bis zum Mittag ist es nicht mehr weit. Auf dem Fahrrad hat man jede Menge Zeit, um Vergangenes zu waelzen. Bis tief in die Kindheit. Oder sich vorzustellen, was manche Leute zu Hause gerade machen. Sonntagsfruehstueck vielleicht? Nein, besser ganz schnell wieder vergessen...
Oder zynische Geschichten erfinden: Der chinesische Asbestfisch. Er schwimmt in den Bewaesserungskanaelen von Qinghai. Wenn du ihn faengst und auf den Grill schmeisst, lacht er dich nur haemisch an. Er ist der Asbestfisch, er ist feuerfest.
Oder der Karamellfluss. Schon eine ganze Weile fliesst er neben uns her. Karamellbraun. Auf direktem Weg zur Karamellfabrik. Darin werden die leckeren “Alpenliebe Karamell-Schockodrops” hergestellt. Waere es nicht gerade jetzt Zeit fuer ein solches Bonbon? “Hey, anhalten, ich muss mich mal Karamelldropen.”
Der Abend naht. Mangels einer Alternative wird es wohl auch zum Abendessen Instandnudeln geben. Wie viele Tage jetzt schon? In einem Lonely Planet Reisefuehrer, der irgendwo herumgestanden ist, haben wir gelesen “der beste Grund nach China zu reisen, ist das Essen”. Haben die eine Ahnung. Zelt aufstellen. In die Nacht lauschen. Der Platz ist sicher. Einschlafen.
Die Sonne steigt ueber das weite Grasland von Bayanbulak. Flache Huegel, lange Schatten. Mongolen leben hier. Sie haben sich ihr Zuhause nicht nach Linien auf einem Stueck Papier ausgesucht. Jurten und Pferdeherden. Die Mongolei, mitten in China. China ist nicht stolz darauf. Wieder haelt uns die Polizei auf. Sperrgebiet. Keine Uebernachtung im Hotel, keine Fotos. Am Fernseher flimmert das WM Spiel Ghana - USA. Der Beamte ist gelangweilt, fragt nach Geld, pocht auf irgend eine Travel Card, die wir nicht haben, will wissen, ob die Frau mit irgend einem von den beiden Maennern verheiratet ist. Zusammenhangslos. Voellig unwichtig. Zum Glueck ist es ihm zu anstrengend, uns einen Transport zu organisieren. Wir duerfen weiterfahren...
Beim Sharyn Canyon verabschieden wir uns von Christian. In zwei Tagen fliegt er nach Hause. Wir sind mittlerweilen dreitausend Kilometer gemeinsam geradelt. Eine Menge.
Als er bereits im Flieger sitzt, erreichen wir den Kolsay Nationalpark. Ein fantastischer Platz, hoch oben an der kasachisch - kirgisischen Grenze. Drei glasklare Bergseen, dichte Waelder und Edelweisswiesen. Schoen und einsam. Wir reiten in zwei Tagen hoch auf den Grenzkamm, schauen hinunter nach Kirgistan. Wolken tuermen sich ueber dem himmelblauen Issyk Koel, reissen die Gedanken mit, lassen vorausschauen. Ein Jahr ist um. Auch wir fliegen von Almaty nach Hause. Unsere Reise ist zu Ende. Neue Herausforderungen warten auf uns. Ein Schritt und wir erreichen eine unsichtbare Linie. Ein Schritt noch und wir betreten Grenzland.
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