USA: Great Divide

Heiss. Die angeblich schweissfeste Sonnencreme zerfliesst zu weissen Inselchen auf unseren Armen. Die Haut fühlt sich an wie Sandpapier. Salzkristalle mustern T-Shirt und Gesicht. Die Gummibärchen sind zu einer kompakten farbigen Masse geschmolzen. Und die Wasserflaschen sind schon wieder alle leer. Doch die steile Piste windet sich unbeeindruckt von unserem Gejammer weiter aufwärts. Haben wir nicht mal irgendwo gelesen, dass hundert Höhenmeter einen Temperaturunterschied von einem Grad ausmachen? Also weiter hinauf, es kann nur besser werden.

Und das wird es. Bei der Znünipause haben wir noch Löwenzahnsamen in die Luft gepustet, nun sind die Bergmatten mit gelben Tupfern übersäht. Ein kleines Bächlein gurgelt übermütig über glattgeschliffene Kieselsteine. Das Wasser ist eiskalt. Schmelzwasser. Genau richtig, um die Salzkruste von Gesicht und Armen zu waschen, bevor es wieder hinunter geht ins nächste Tal. Die ersten Tage auf der Great Divide Mountainbike Route, welche von New Mexico auf Waldwegen und Trails hoch bis nach Kanada führt, sind ein ständiges Auf und Ab. Wenn wir uns am Abend das Höhenprofil angucken, gleicht es einem zusammengestauchten EKG. Steile Anstiege, steile Abfahrten, die Tagesetappen summieren sich locker auf 2000 Höhenmeter. Es sind einsame Forststrassen, oft staubig und trocken, dann wieder steinige ATV Tracks, die durch Matsch und letzte Schneereste führen. Und immer wieder Wald, Wald soweit das Auge reicht. Irgendwie hatten wir uns die Rocky Mountains anders vorgestellt - felsiger, mächtiger, imposanter. Wir stehen zwar auf über 3000m und doch umgeben uns nur Hügel. Steile Hügel zwar, aber eben doch nur Hügel. Es fehlt das schneebedeckte Hochgebirgspanorama im Hintergrund.

Nach dem Indiana Pass begegnen uns die ersten Racer. Hundertachtzig von ihnen sind knapp zehn Tage vorher in Banff gestartet und versuchen die Strecke von über 4000km in Rekordzeiten von unter vierzehn Tagen hinter sich zu bringen. Einige sind viel zu gestresst, um wegen uns zu stoppen, andere scheinen froh um eine Ausrede zu sein, um mal kurz vom Bike zu steigen. Kurzes Geplauder, woher, wohin, wie gefällt es euch und immer wieder: Wie weit fährt ihr heute noch? Darauf zucken wir bloss mit den Schultern. Wenn es eindunkelt, werden wir irgendwo an einem Waldrand oder einem kleinen Bach das Zelt aufstellen, uns über die Moskitos ärgern, kochen, essen, schlafen. Uns ist es egal, wo das sein wird und Tagesetappenpläne machen wir schon lange keine mehr. Wieder einmal wird uns bewusst, wie weit wir uns von der Gesellschaft entfernt haben, die in Minuten und Stunden denkt, die Zeit hortet wie die Grauen Herren im Kinderbuchklassiker "Momo" und einen Wettbewerb daraus macht, in möglichst wenig Zeit möglichst weit zu kommen.

Genau dieses Schulterzucken verhilft uns ein paar Tage später zu einem wunderschönen Übernachtungsplatz. Seit zehn Tagen sind wir nun ohne Pause unterwegs. Schlafen im Zelt irgendwo in der Wildnis, Waschen unserer Kleider in Bächen und Baden in kalten Bergseen. Wir sehnen uns nach einem Bett, nach einer heissen Dusche, einer Waschmaschine, ein bisschen Zivilisationsluxus. Und da treffen wir auf dem Seitenstreifen Richtung Steamboat Springs auf Anita und Jack. Sie drehen ihre morgendliche Runde mit ihren Rennvelos, stoppen bei uns, stellen Fragen zu unserer Ausrüstung, dann zu unserer Reise. "Und wie lange habt ihr vor noch unterwegs zu sein?" Ein Schulterzucken, ein Lachen: "No idea, we make no plans, you know." Und so haben wir wenige Kilometer später genau das, was wir uns gewünscht haben. Ein Bett, eine heisse Dusche, eine Waschmaschine und dazu noch einen Haufen interessanter Gespräche.

Anitas Eltern sind in den Fünfziger Jahren nach Amerika ausgewandert, den Kopf voller Träume, die Herzen voller Sehnsucht nach einem besseren Leben, das ihnen das Europa der Nachkriegszeit nicht bieten konnte. Mit beiden Händen haben sie die Chance gepackt, die ihnen Amerika geboten hat. Anita erzählt uns, wie sie auf ein Inserat hin den teuren Cadillac von Rod Serling, einem berühmten Regisseur, von New York nach Hollywood fahren durften, natürlich ohne einen Schimmer zu haben, wem sie da einen Dienst erwiesen. Für sie einfach eine einmalige und günstige Gelegenheit, das Land zu sehen, während der "feine Mister" das Flugzeug nahm. Wie sie darum gebeten hatten, die Reise um einen Tag verlängern zu dürfen, um einen Flitterwochenstopp beim Grand Canyon einlegen zu können. Wie sie das Auto nach der Reise so blitzsauber dem Besitzer übergeben hatten, dass dieser ihnen, beeindruckt von dem jungen Paar, das Geld fürs Benzin in die Hände drückte, obwohl das nicht Teil des Deals war. Es ist eine dieser "Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten" Geschichten und sie berührt uns auf besondere Weise. Denn längst nicht alle Einwanderergeschichten sind so erfolgreich verlaufen. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind gross, gerade für einen so modernen Staat, einen Staat, der für viele Entwicklungsländer ein Vorbild ist. Keine Sozialversicherung, keine Arbeitslosenunterstützung, keine richtige Altersvorsorge, keine Krankenversicherung, keine staatlich finanzierte Hochschulausbildung, ein Mindestlohn von 15$ pro Stunde, der noch längst nicht überall eingehalten wird. Alles Dinge, die für uns eine Selbstverständlichkeit sind.
Aus der Sicht vieler Amerikaner ist man noch immer seines eigenen Glückes Schmied. Wer es nicht vom Tellerwäscher zum Millionär geschafft hat, ist selber schuld. Eine Einstellung, die uns egoistisch erscheint.

Und doch sitzen wir nun hier an einem reich gedeckten Tisch, geniessen den Lachs, während wir vom fettigen Schaffleich erzählen, das wir in der Mongolei gegessen haben; vom Biwakieren bei minus vierzig Grad, wenn einem die Wimpern in der Nacht zusammenfrieren; wie das Reisen, das für uns vor achtzehn Jahren mit Kurzferien in Europa begonnen hatte, immer mehr zu unserem Leben geworden ist. Die Begegnung mit Anita und Jack war einer dieser besonderen Momente des Reiselebens und sie hat in uns etwas angestossen. Wir sind erstaunt und dankbar, welche Gastfreundschaft wir in einem westlichen Land wie Amerika erleben dürfen. Ein Schwatz hier, ein Gespräch dort, auch wenn man sich nicht kennt. Wir wünschen uns eine ähnliche Offenheit und Neugier in Europa. Wir fragen uns, ob und wie wir den Sprung zurück in die Alltagswelt und die Konsumgesellschaft wieder schaffen werden, wenn es einmal soweit sein wird. Der Aufbruch von zu Hause hat Mut gebraucht. Es ist uns vor drei Jahren nicht leicht gefallen, einen tollen Arbeitsplatz, unser Zuhause, Familie und Freunde zu verlassen. Doch manchmal denken wir, dass eine Rückkehr und die Wiedereingliederung ins alte Leben fast noch mehr Mut brauchen wird.

In Wyoming liegt das Great Basin. Fast jeder Biker, den wir kreuzen, klagt darüber. Hitze, Wassermangel, Wind. Wird es endlich etwas abenteuerlicher? Immerhin sind es Radler, die uns warnen, und auf das Urteil von Radlern ist meistens Verlass. Doch alles nur halb so schlimm. Sanfte, rollende Hügel, silbrig glänzende Salbeisträucher, dazwischen lila blühende Lupinen, schliesslich gelbes Präriegras bis an den Horizont. Eine schöne Abwechslung zum ewigen Wald. Wir starten noch in der Dunkelheit, schliesslich haben wir vom Punawind gelernt. In einem sanften Rosa verfärbt sich der Himmel, ein paar Antilopen ergreifen die Flucht, als wir losradeln. Doch anders als der Punawind erwacht der Basinwind mit den ersten Sonnenstrahlen. Und wir haben ihn voll von vorne. Treten, Windschattenfahren, Fluchen - und dazwischen Träumen von der Mongolei.

Nach dem Great Basin kreuzt der Trail den Teton Nationalpark. Endlich richtige Berge. Wir wissen, dass von Norden kommende Radler gratis durchfahren können, es von Süden herkommend aber anders aussieht. Der Versuch, frech am Kassenhäuschen vorbeizuradeln, misslingt. Wir werden zurückgepfiffen. Auch unser Argument, dass wir den Park ja nicht besuchen, sondern bloss dreissig Kilometer auf der Hauptstrasse duchfahren würden, greift nicht. Hinter uns staut sich der Verkehr. "You have to pay, it's final", meint die genervte Parkrangerin. Dann verladen wir halt auf ein Auto, entgegnen wir schulterzuckend, denn als Fahrradfahrer müssten wir beide ein Einzelticket lösen, das Doppelte, was ein Autofahrer mit vier Passagieren zahlt. "Hitchhiking through a National Park is forbidden", so der knappe Bescheid der Rangerin. Nun sind auch wir genervt, denn für uns bedeuten dreissig Dollar schon fast ein Tagesbudget, oder etwas Luxus wie eine Motelnacht beim Inder, oder viermal Essen im McDonald, oder acht Kübel Eiscreme. Wortlos drehen wir um und essen gefrustet ein Snickers an der Strassenkreuzung. Und da tauchen doch tatsächlich zwei Radler aus Norden auf, die ein Ticket besitzen, das noch weitere drei Tage gültig ist und auch gleich noch den Yellowstone Nationalpark einschliesst. "Es gibt immer eine Lösung", das haben wir in den letzten Reisejahren gelernt. Manchmal muss man bloss ein bisschen länger Geduld haben.

Im Yellowstone fühlen wir uns wie in China, Korea, Indien, Frankreich und Amerika gleichzeitig. Tausende von Leuten besuchen den Park am Wochenende des 4. Juli, dem Nationalfeiertag. Sie treten sich auf den Laufstegen vor den Geysiren gegenseitig auf die Zehen und kämpfen mit ihren Selfiesticks um den Luftraum über ihren Köpfen. Und die meisten von ihnen sind in einem überdimensionierten Wohnmobil unterwegs - mit Anhänger für das ATV und wenns hochkommt auch noch für das Boot. Die Strassen sind verstopft wie an Ostern vor dem Gotthard. Als wir am Abend im Zelt liegen, fühlen wir uns wie damals in Sizilien, als wir mitten auf einer Verkehrsinsel campiert hatten, das konstante Brummen des Verkehrs als Schlaflied im Ohr. Schon komisch, dass ganze Landstriche mit Fracking zerstört werden, um das Benzin zu produzieren, mit dem dann anderswo die unter Schutz stehende Natur angeschaut wird, sinnieren wir. Schon komisch, dass diejenigen, die intakte Natur sehen wollen bezahlen müssen, und nicht die, welche sie kaputt machen.

Zurück auf dem Trail geniessen wir die Einsamkeit und Stille umso mehr. Inzwischen stehen wir kurz vor der Kanadischen Grenze. Und danach? Noch immer wissen wir nicht, wie es weitergeht. Aber wir haben ja immer noch alle Zeit der Welt. Ein Schulterzucken, ein Lachen. "No idea, we make no plans, you know." Vielleicht öffnet sich auch diesmal unterwartet eine Tür für uns.

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