Mit El Nino in den Anden

El Niño wenigstens war kalkulierbar. Alle paar Jahre um die Weihnachtszeit erwärmte sich der ansonsten kalte Humboldtstrom infolge ausbleibender Passatwinde und verarmte an Nährstoffen, und Makrelen, Bonitos und Sardellen ließen sich nicht blicken, weil sie nichts zu fressen fanden. Darum hatten Ucañans Vorfahren dem Phänomen den Namen El Niño gegeben, frei übersetzt ›das Christkind‹. Manchmal beließ es das Christkind dabei, einfach ein wenig die Natur durcheinander zu bringen, aber alle vier bis fünf Jahre schickte es die Strafe des Himmels über die Menschen, als wolle es sie vom Angesicht der Erde tilgen. Wirbelstürme, verdreißigfachte Regengüsse und tödliche Schlammlawinen – jedesmal verloren Hunderte ihr Leben. El Niño kam und ging, so war es immer gewesen. Man konnte sich nicht unbedingt mit ihm anfreunden, aber irgendwie arrangieren. (Aus „der Schwarm“ von Frank Schätzing)

Seit geraumer Zeit hatte El Niño seine Aufgabe nicht mehr ernst genommen und die wirklich grossen Klimageschenke blieben in Südamerika aus. Doch just in diesem Jahr ist ›das Christkind‹ aufgewacht, um die Pazifikküste mit einer Heftigkeit heimzusuchen, wie sie es seit fünfzehn Jahren nicht mehr erlebt hat. Zuerst haben wir Freude daran. Ein paar aussergewöhnliche Regentage haben die Atacamawüste zum Leben erweckt. Von einem Tag auf den anderen platzen die Kakteenblüten auf und wir radeln durch ein pinkfarbenes Meer aus Blumen. „El desierto florido“ wird das Phänomen genannt. Verschwunden ist die heisse, staubige und öde Landschaft, die wir in Erinnerung haben. Danke für die Überraschung. Warum sollte man sich nicht mit El Niño anfreunden können?

Doch El Niño bringt eben nicht nur freudige Überraschungen. Als wir in La Serena ankommen, twittern die Grenzbeamten: Alle Andenpässe geschlossen. Der warme Wüstenregen ist in den Hochanden als meterhoher Schnee gefallen. Und weiter nördlich hat ein Vulkan zu spucken begonnen. Uns bleibt nichts anderes übrig. Wir stellen die Velos in eine Ecke, mieten uns ein gemütliches Zimmer und verbringen die nächste Zeit mit Schlafen, Filmeschauen und Essen. „Andentraining“ nennen wir die Woche, tun so, als wäre das sowieso alles geplant gewesen und hoffen schon bald nach jedem neuen Supermarktbesuch, dass ›das Christkind‹ noch etwas länger in der Trotzphase bleibt.

Doch nach einer Woche ist unser „Trainingsabo“ abgelaufen. Wir schwingen uns wieder auf die Räder und fahren Richtung Norden. Der Paso San Francisco, über welchen wir erneut nach Argentinien hinüberfahren wollen, ist zwar noch geschlossen, aber immerhin steht beim Strassenzustandsbericht schon „obras en ejecucion“. Bis wir dort sind, wird eine weitere Woche vergangen sein. Das sollte doch sowohl für Chilenen, wie Argentinier reichen, um einmal mit dem Schneepflug durchzufahren.

Der Plan geht auf. Als wir in Copiapo ankommen, ist der Pass offen. ›Das Christkind‹ hat seinen Spass am Schnee verloren und sich ein neues Spielzeug gesucht. Als wir langsam auf 4000 Meter hochkurbeln, schickt es uns den Wind. Schön in West-Ost Richtung. Wir segeln regelrecht über den ersten Pass. Hoch und immer höher. Beim Salar de Maricunga gibts den Stempel in den Pass und dann fliegen wir hinaus in die Weite der argentinischen Puna. Hätte El Niño eine Fanpage auf Facebook, wir würden sie liken.

Doch auch das schönste Geschenk hält nicht ewig. Nach dem Paso San Francisco gehts von Tinogasta Richtung Norden. Spätestens nachdem wir beim Googeln gesehen haben, dass sich unser ›Christkind‹ nur den Namen ausgeliehen und sich im Gegensatz zum Original (je nach Quelle und Sprache zwischen 36'951 und 1'058'097 likes) nicht im geringsten um soziale Kontakte schert, hätten wir wissen müssen, dass es nichts bringt, unsere Geschenkliste einzureichen. El Niño ist der Trotzphase entwachsen und weiss nun schon recht gut, was ihm gefällt. Ein bisschen mehr Nord ins Ost-West und definitiv noch einen Zacken Puste drauf. In Zukunft heisst's für uns Gegenwind. Freundschaftsgefühle für El Niño? Wie konnten wir nur...

Zehn Jahre hat die Puna Strecke hoch nach Antofagasta de la Sierra und über den fast vergessenen Paso Socompa in unseren Köpfen rumgespukt. Und nun stehen wir mittendrin. Eine unermessliche Hochgebirgswüste aus Stein, Sand und Staub. Licht und Schatten, Einsamkeit. Ist das noch die Erde? Oder ist es der Mond?

Sie schaute in die Ferne. Überfallartig bestürmten sie Eindrücke. Grosse Teile der Umgebung liessen sich von hier oben überblicken. Ein Hochland. Hügel und Grate, der Scherenschnitt langer Schatten. Krater wie Becken voll schwarzer Tinte […] kulissenartig stach die Landschaft gegen den Weltraum ab. Alles erschien ungeachtet seiner tatsächlichen Entfernung zum Greifen nahe, scharf konturiert. […] jetzt verspürte sie keinen anderen Wunsch mehr, als diese fremdartige, unberührte Landschaft zu bestaunen, das brutal Archaische ihrer Steilwände und Höhenrücken, die samtige Verschwiegenheit ihrer staubgefüllten Täler und Ebenen, die völlige Abwesenheit von Farben. Kalt erstrahlte die Sonne auf den Rändern der Einschlaglöcher, in ihrer Glut zerrann die Zeit. (aus „Limit“ von Frank Schätzing)

In Antofagasta de la Sierra treffen wir Anibal Vasquez, um Routeninfos einzuholen. Er ist Lehrer, Bergführer, Fahrradfahrer und Extremsportler. Wohl kaum ein Vulkan oder Gipfel, den er in der Umgebung nicht bestiegen hat oder eine Ecke der Puna, die er nicht kennt. Sein nächstes Projekt: Ein Höhenrekord mit seiner siebenjährigen Tochter auf dem Ojos del Salado. Sie ist hier auf 3300 Metern aufgewachsen, 6893 Meter ist für sie wie für uns eine Wanderung auf den Wildstrubel... Doch Anibal kann nicht los. El Niño beschert in der nächsten Woche auf dieser Höhe Tag- und Nachtwinde von 160km/h. Klar, es ist Advent. Dem ›Christkind‹ käme nicht im Traum in den Sinn, jetzt abzuhauen. Dem Kindesalter entwachsen, freut es sich nun vielmehr auf seine pubertäre Phase.

HInaus aus Antofagasta auf der direkten Piste nach Antofalla sind wir zum Glück noch recht gut windgeschützt. Wir fahren durch eine Vega hoch, ein Tal mit Wasser, eine Lebensinsel in der Puna. Lamas grasen, Vicunas stillen ihren Durst und es hat auch einige Puestos, aus Stein gebaute Schäferhütten. Dann geht es steil hinunter auf den Salar de Antofalla. Die Brauntöne werden vom salzdurchtränkten Boden aufgesogen, der Wind hat wieder freie Bahn. Der Anstieg zum nächsten Pass wird zur Kraftprobe. Es stürmt mit 100km/h. Drei Stunden brauchen wir für zehn Kilometer. Weder Wasser- noch Proviantvorrat reichen für ein solches Tempo. Wenn der Wind nicht nachlässt, müssen wir morgen umkehren.

Um 4.00 Uhr klingelt der Wecker. Mit der ersten Morgendämmerung fahren wir los. Der Wind hat letzte Nacht zu lange gezecht und schafft das Frühaufsteherprogramm nicht. Als er um 11.00 Uhr erwacht, haben wir das Tagesprogramm schon durch und die Mina Mansfield am Rand des Salars de Arizora erreicht, des grössten Salzsees Argentiniens. Nun haben wir den Dreh raus, wie wir mit dem Teenager El Niño fertig werden.

Geschmeidig wand sich der Lunar Express ins Mare Imbrium hinein, die angrenzende Wüstenebene. Am Horizont türmten sich neue Berge auf, die Mondalpen, grell bestrahlt, von Schatten geädert. Kühn schwangen sich die Gleise in die Berglandschaft, krallten sich die Pfeiler der Magnetbahn in abschüssigen Fels. Je höher sie gelangten, desto atemberaubender gestaltete sich das Panorama, schroffe Zweitausender, kubistisch geformte Überhänge, scharf gezackte Grate. Ein letzter Blick auf den Staubteppich des Mare Imbrium, dann ging es kurvig ins Hinterland, zwischen Gipfeln und Hochebenen hindurch zum Rand eines lunaren Grand Canyon. (aus „Limit“ von Frank Schätzing)

1921 erhielt der US-amerikanischen Ingenieur Ricardo Fontaine Maury den Auftrag eine Zuglinie von Salta durch die Anden an die chilenische Küste zu bauen. Siebenundzwanzig Jahre lang wurden die Schwellen und Schienen bis auf Höhen von 4000 Metern durch die unwirtliche Landschaft verlegt. Als das Meisterwerk fertig war, umfasste es einunddreissig Brücken, einundzwanzig Tunnel, dreizehn Viadukte, zwei Kehrschleifen, zwei Spitzkehren und einundzwanzig Stationen auf neunhundert Bahnkilometern. Hätten Chile und Argentinien nicht gepennt, würde heute vielleicht auch ein Touristenhighlight à la Frank Schätzings Lunar Express durch die Mondlandschaft der Puna rattern. Doch dieser Zug ist wohl definitiv abgefahren. Zweihundert Kilometer sind heute noch in ein paar ausrangierten Wagen der Schweizer Zentralbahn als „Tren a las nubes“ befahrbar und die Presse berichtet aktuell von einer Wiedereröffnung der gesamten Cargo Linie. Doch irgendwie sieht es da oben nicht danach aus.

Fünf Tage lang folgen wir der Piste von Tolar Grande hoch zum Socompa Pass und hinüber nach San Pedro de Atacama. Der Grenzübertritt ist nur für Fussgänger und Velofahrer offen. Immer wieder kreuzen wir die Bahnlinie, legen ein paar Kilometer auf der Trasse zurück, um steile Anstiege zu umgehen oder Höhenmeter zu sparen.

Die verlassenen Zugstationen Chuculaqui und Monturaqui versorgen uns zusammen mit der Grenzstation mit Wasser. Ansonsten sind wir in der weiten, kompromisslosen Landschaft auf uns selbst gestellt. OK, nicht ganz. Denn das ›Christkind‹ hat uns nicht verlassen. Es ist immer noch zickig und ob es sich Freunde macht oder nicht, ist ihm wurscht. Es kommt und geht, wie es immer gewesen ist. Man kann sich nicht unbedingt mit ihm anfreunden. Aber man kann sich irgendwie mit ihm arrangieren. Und mit der Zeit wird es sogar etwas kalkulierbar. Der Nordwestwind wird in der Puna zweifellos sein Lieblingsgeschenk bleiben. Darum fahren wir nach einer langen Pause in San Pedro nun wieder nach Süden. Mit Rückenwind.

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