Der Vollmond steigt über die Bergspitzen, eine Kristallkugel auf einem dunkelblauen Samttuch. Der Wind weht in heftigen Böen vom Pass her, wirbelt grobkörnigen Sand auf und fährt unter den Zeltstoff. Die Temperatur liegt weit unter Null. Wir frieren, obwohl wir mit Thermounterwäsche, Daunenjacke und Goretexkleidern im Schlafsack liegen. Zwischen den Windböen ist es still, so still wie es nur im Hochgebirge sein kann. Unser Zelt steht auf 5500 Metern. Eigentlich viel zu hoch, um zu übernachten. Die Luft ist zu dünn, um ruhig schlafen zu können. Aber die sorgfältigen Pläne, die wir in Pokhara geschmiedet haben, hätten uns gar nicht erst an diesen Ort führen sollen.
Wie waren wir froh, nach dem schwül-heissen Terai die ersten Ausläufer der Berge zu erreichen. Und ganz ehrlich: Wir haben uns wahnsinnig über die Touristenhochburg Pokhara gefreut. Nettes Hotelzimmer, saubere Bettwäsche, heisses Duschwasser, gutes Essen. Manchmal tut so ein Ort einfach gut. Doch Pokhara frustriert uns auch. Uns war nicht bewusst, wie unglaublich reglementiert Nepal ist. Kaum noch eine Trekkingroute, die alleine begangen werden darf. Überall braucht es teure Sonderbewilligungen und die Mitnahme eines Führers ist oftmals vorgeschrieben. Überhaupt nicht nach unserem Geschmack. Doch wir sind hier, um den Himalaya zu erleben und so versuchen wir uns zu arrangieren. Wir brüten ein paar Tage über Karten und stellen uns eine Route zusammen, die so noch in keinem Reiseführer steht. Dhaulagiri - Hidden Valley - Lower Dolpa - Lower Mustang. 18 Tage, ein reiner Campingtrek, Versorgungsmöglichkeiten unterwegs: Keine. "That's an expedition, not a trek", meint der Herr in der Tourenagentur, bevor er sich an die Strippe hängt und versucht einen Führer zu finden, der die Region kennt. Wir zucken die Schultern. Wenn wir schon einen Guide mitnehmen müssen, dann soll er uns auch was nützen.
Zwei Tage später stehen wir in Marpha, dem Ausgangspunkt unseres Trekkings, zusammen mit Chham, unserem Guide sowie seinem "pleasure friend", einer zierlich gebauten Frau mit pinken Fingernägeln und brandneuen hellblauen Turnschuhen, die die Aufgabe des Trägers übernehmen soll. "She is very strong", versucht Chham uns zu beruhigen, "she can do it". Na gut, wir wurden ja von unserem Äusseren auch schon unterschätzt. Doch bereits nach fünf Minuten ist klar, dass uns unser Gefühl nicht getrogen hat: She can't do it - jedenfalls nicht so. Wir nehmen ihr die Hälfte unseres Proviants wieder ab und schnallen zwei Packsäcke auf unsere eh schon überfüllten 30l Rucksäcke. Nach zwei Tagen sieht dann auch Chham ein, dass seine Freundin sicher ihre Qualitäten hat, aber nicht unbedingt als Trägerin. Wir packen um und schicken die Lady zurück. Und obwohl wir von nun an jeden Felsen nutzen, um die schweren Rucksäcke abzustellen, kommen wir doch um einiges schneller voran als zuvor.
Mit dem Dhampus Pass erreichen wir das "Versteckte Tal", und hier zweigen wir von der Hauptroute der Dhaulagiri Runde ab. Der sonnenbeschienene Talboden verengt sich immer mehr zu einer schattigen Schlucht. Glasklare Eiszapfen hängen an den Steinen und wir müssen bereits zum dritten Mal den reissenden Gletscherbach queren. Der Monsoon hat den Wasserstand ansteigen lassen und den Trail zum Verschwinden gebracht. Die Felswände rücken noch näher zusammen, das Wasser steigt auf Hüfthöhe. Zu gefährlich, um zu furten, die Strömung ist zu stark, das Wasser zu kalt. "Wir müssen über den Muli Pass, der bringt uns aus dem Tal", meint Chham und zähneklappernd drehen wir um.
Der Pass hat zwar einen Namen, aber keinen Pfad. Weglos klettern wir eine verblockte und mit Geröll gefüllte Ravine hoch. Immer wieder lösen wir kleine Schuttlawinen aus, wenn wir im losen Schiefergestein nach Tritt suchen. Ob Chham weiss, wo er uns da hinführt? Längst sind wir alle drei völlig erschöpft von der steilen Kletterei, längst hat die Sonne lange Schatten geweckt, die mit kalten Fingern nach uns greifen, doch hier können wir nirgendwo zelten. Mit dem letzten Abendlicht erreichen wir einen flachen Boden auf 5500m, kurz bevor der "Pass" über einige Felsstufen zum Grande Finale ansteigt. Trotz sorgfältiger Planung in Pokhara sind wir nun hier.
Am nächsten Morgen erklimmen wir die restlichen 400 Höhenmeter, oft auf allen Vieren und nach Atem ringend. Muli La - du bist ein richtiger Sauhund... Da geht es am nächsten Tag um einiges einfacher über seinen Bruder im Nachbartal, den Mula La. Der Aufstieg führt durch ein weites Hochtal hinauf zum Pass. In unserem Rücken liegt eine Berglandschaft in allen Braunschattierungen, die sich in der Ferne auf einem Hochplateau verliert - Tibet. Vor uns erhebt sich majestätisch die gewaltige Dhaulagiri Range. Steile Felswände, stürzende Gletscherzungen, aufgewirbelte Schneefahnen auf den scharfgezeichneten Bergrücken: Ein Hammerpass. Für uns ist er das Tor zur Dolpa Region, für die Händler und ihre Karawanen eine wichtige Versorgungsroute. Jetzt Ende Herbst bringen sie mit schwer beladenen Maultieren und Yaks Reis, Oel und Salz in die abgelegenen Dörfer. Für fast ein halbes Jahr werden die Menschen von der Aussenwelt abgeschnitten sein.
Am siebten Tag erreichen wir die erste kleine Siedlung, Mukotgoan. Die Steinhäuser ducken sich nah beieinander an die Talseite. Gelb leuchten darunter die abgeernteten Felder im weichen Herbstlicht. Das rhythmische Klopfen der Dreschflegel erfüllt das Tal. Der Eingang des Dorfes wird von drei uralten Chörten markiert. Kurz danach treffen wir auf eine Frau, die uns neugierig mustert. "Tashi Delek!" erwidert sie unsere Begrüssung, "Möge es dir wohlergehen!" Die Begrüssungsformel, die überall im tibetischen Raum verwendet wird und die uns immer an unsere Zeit in Osttibet erinnert. Wir scheinen eine ziemliche Attraktion zu sein, denn bald gerät das Klopfen der Drescher aus dem Rhythmus und von den Dächern folgen uns die Blicke, als uns die Frau in ihr Haus führt.
Über eine steile Holztreppe steigen wir vom Stall hinauf in den Wohnraum und man weist uns die Ehrenplätze an der Wand hinter dem Ofen zu. Ein paar Fladen Yakdung werden ins Feuer geschoben, Buttertee gereicht. Wir fühlen uns, als wären wir mit jeder Leitersprosse, die wir soeben hochgeklettert sind, mindestens zehn Jahre in der Zeit zurück gereist. Schwarze Wände, Rauch, der die Augen tränen lässt - ein verschwommener Blick in die Vergangenheit. Ein Regal voller Messingkannen, eine Zahnbürste, Rüstabfälle in einer Ecke, ein Butterfass an der Wand. Lichtflecken, die vom Dachloch zum Boden fallen. Starke Kontraste schneiden die Gesichter der Menschen um uns aus dem Dunkeln.
Die Frau kniet nieder, bläst in die Glut und setzt einen Topf auf den Herd. Wir werden zum Mittagessen eingeladen. Die Kartoffeln sind nicht grösser als Wachteleier. Das erste Mal haben wir das Gefühl, dass die Menschen so wenig haben, dass es nicht richtig ist, ihnen das wenige wegzuessen, darum greifen wir nur zurückhaltend zu. Gegen Abend stellen wir unser Zelt auf einem der Flachdächer auf. Langsam verstummt das Klatschen der Dreschflegel. Ein Schwarm Dohlen fliegt hinaus in die Abenddämmerung, während eine Gruppe rotznäsiger Kinder uns mit grossen Augen beim Kochen zuschaut.
Die nächsten Tage führen uns über einen spektakulär gebauten Pfad durch ein enges Tal Richtung Charka Bhot, das an der Grenze zu Upper Dolpa liegt. Wir begegnen Karawanen auf ihrer Wintermigration hinunter ins Tal, queren weitere mittelalterlich anmutende Dörfer, laufen entlang langer Manimauern aus gemeisselten Gebetssteinen und begegnen immer wieder Menschen, die direkt einem Filmset entstiegen zu sein scheinen. Und obwohl es faszinierend ist, dass im einundzwanzigsten Jahrhundert noch Orte wie dieser existieren, wissen wir, dass das Leben hier nichts mit Nostalgie, sondern vor allem mit Überleben zu tun hat.
"Botte People" werden die Dolpa Bewohner von den übrigen Nepalesen gerne abschätzig genannt. Jeder weiss: Sie sind zu faul zum Duschen, leben gerne im Dreck und sind steinreich! Das Gerücht hält sich sogar bei unserem Führer hartnäckig. "Im Frühling ziehen sie hinaus auf die Alpweiden, um den Yartsa Gunbu, den chinesischen Raupenpilz zu ernten. Die Chinesen sind ganz verrückt nach diesem Aphrodisiakum und bezahlen Millionen!" Der Pilz wächst nur im tibetischen Hochland und hat seinen Ursprung aus einer Raupe, die hier im Boden überwintert. Und tatsächlich kostet er in China mittlerweile ein Vermögen. Für die Dolpa Bewohner ist er ein wichtiges Handelsgut, um Salz, Zucker und Kleider von China zu erstehen. Bezahlt wird von den chinesischen Händlern meist in Naturalien. Doch reich wird damit wohl kaum jemand. Und das Duschen? Nun, das ist so eine Sache hier, wie auch unser Führer eingestehen muss, als er am frühen Morgen des sechzehnten Trekkingtages verfroren aus seinem Zelt kriecht.
Mit dem Herbst sind die Tage in Nepal kurz geworden. Im Taschenlampenlicht haben wir zusammengepackt. Der Weg ist steil, der Jungben La hoch. Er ist der letzte grosse Pass auf unserem Trekking, bevor es wieder runter geht ins untere Mustangtal. Ein letztes Mal stehen wir auf über 5500m. Der Wind fährt in den verwitterten Stoff der Gebetsfahnen und lässt sie knattern. Unser Blick schweift weit über Bergketten und Täler. Ein einsamer Stern verblasst, ein Diamant, zum Schlafen gelegt in einem rosa Samttuch. Dann geht die Sonne auf.
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