Zasch! Mit einem lauten Knall schlagen die Nudeln auf der Tischfläche auf, werden in die Länge gezogen, blitzschnell umeinander gedreht und landen mit einem erneuten Zasch auf der Tischplatte. Der uigurische Koch wirft uns ein breites Grinsen zu, während er sie in den dampfenden Wassertopf gleiten lässt. Dann dreht er sich um und giesst reichlich Oel in den Wok. Eine Stichflamme schiesst über dem offenen Herd auf. Rasch wirft er zwei Handvoll kleingeschnittenes Gemüse hinzu, schüttelt es während des Anbratens hin und her, während er gleichzeitig nach der Chilidose greift. „Bù là!“ rufen wir, einer der ganz wenigen chinesischen Ausdrücke, den wir nun endlich nach zweimonatiger Übungszeit meistens richtig auf die Reihe kriegen. „Nicht scharf!“ Ein weiteres Grinsen, dann fischt er die Nudeln mit dem Sieb aus dem Wasser, richtet sie gemeinsam mit dem Gemüse auf zwei Tellern an und bringt uns diese zusammen mit Essstäbchen strahlend an den Tisch. Ein uigurisches Laghman – wie oft haben wir davon in der Mongolei geträumt. Einen langen Moment hört man nur andächtiges Kauen am Tisch. So verbringen wir die ersten Tage zurück in China dann auch fast ausschliesslich mit Essen. Wan Tan, gefüllte Ravioli im Dämpfkörbchen, süsssaure Auberginen, gebratener Tofu und immer wieder frische Nudeln in allen Längen und Dicken. Und erst das frischgebackene, knusprige Brot, das es an jeder zweiten Ecke zu kaufen gibt. Wir sind im Radlerhimmel.
Doch nicht jedes Glück währt ewig. Nach zwei Tagen stehen wir am Eingang eines engen Bergtales vor einer Barriere. „Border zone“ steht auf einem grossen blauen Schild für einmal sogar auf Englisch zu lesen, gut 200km vor der eigentlichen Grenze zur Mongolei. Bald sind wir von vier Grenzpolizisten umringt. Ohne spezielle Grenzbewilligung dürften wir nicht passieren, lässt uns der eine, etwas englisch sprechende Beamte wissen und das Papier könne uns nur das Public Security Bureau in der nächstgrösseren Stadt ausstellen. Wir diskutieren hin und her. Schlussendlich organisieren sie uns nach unserer Weigerung, die Strecke selbst zurück zu fahren, am späten Abend zwei Mitfahrgelegenheiten in einem Lastwagenkonvoi. Ein Fehler, wie sich bereits am nächsten Polizeicheckpoint herausstellt. Unser Lastwagen hat statt zwanzig vierzig Tonnen Granit geladen, der Schlagbaum bleibt deswegen unten und uns bleibt nichts anderes übrig, als kurz vor Mitternacht neben der Strassensperre unser Zelt aufzustellen. Am nächsten Morgen schaffen wir es mit einem Pickup doch noch in die Stadt und werden beim PSB Büro vorstellig. Am Anfang geht alles ganz flott, obwohl niemand englisch spricht und wir nur den handgeschriebenen Zettel des Grenzbeamten vorweisen können. Doch als wir am Nachmittag die beiden Papierfetzen abholen wollen, haben wir es erneut mit Granit zu tun. „Thele ale a lot of mountains thele, it's too dangelous fol you“, erklärt uns die Dolmetscherin am Telefon ganz ernsthaft. Zu viele Berge?! Zu gefährlich?! Erneut argumentieren wir, das Telefon wird hin und her gereicht, doch Fazit ist und bleibt: Wir dürfen nur die Hauptstrassen benutzen, alles andere ist „too dangelous“. So fahren wir die nächsten Tage auf der G216 Richtung Norden. Einer Hauptverkehrsachse, oft ohne Seitenstreifen, mit viel Lastwagenverkehr und rasenden Autofahrern. Aber es hat keine Berge hier, nur öde Wüste und ist deshalb nicht halb so gefährlich wie die Schotterpiste durch das chinesische Altaigebirge. Unsere Motivation erreicht den Tiefpunkt.
Bei Burqin biegen wir auf eine Nebenstrasse Richtung Norden ab, allerdings erst nach einer genauen Nachfrage auf dem dortigen PSB Büro, denn immerhin hat es im Grenzland von Kasachstan, Russland, der Mongolei und China noch viel mehr „dangelous mountains“. Die Beamten sind wiederum sehr höflich und dieses Mal hören wir ein „yes of course you can“. Unsere Mundwinkel wandern langsam wieder etwas höher. „The only area in China with Swiss scenery“ wird das Gebiet rund um den Kanas See beworben. Und wirklich, wir fühlen uns fast ein bisschen wie zu Hause als wir eine Rundtour über Hemu fahren.
Tiefe Täler mit schnell fliessenden Gebirgsbächen, die Hänge dicht bestanden mit Birken- und Lärchenwäldern, die sich nun Mitte September bereits golden zu färben beginnen. Dazwischen liegen immer wieder weite Hochebenen, auf denen kasachische Nomaden die letzten Tage des Sommers verbringen. Der Alpabzug ist bereits in vollem Gange. Jeden Tag begegnen wir Hirten, die ihre riesigen Herden talabwärts treiben. Es sind Männer mit wetterzerfurchten Gesichtern, die uns unter den typisch russischen Fellmützen hervor anschauen, und Frauen, denen man die Härte des Berglebens unter ihren bunten Kopftüchern ansieht. Ihr gesamtes Hab und Gut tragen oft ein paar Kamele, denn motorisierte Nomaden sucht man hier noch vergebens.
Nebst den Kasachen begegnen wir aber auch vielen chinesischen Touristen. In kleinen und grösseren Gruppen kommen sie uns auf der schmalen Piste entgegen, ausstaffiert mit brandneuen Outdoorkleidern, manche bereits etwas fusslahm, andere als möchten sie einen Marathon gewinnen, während die dritten stoisch vor sich hin trotten, als wäre es eine unliebsame, vom Chef übertragene Aufgabe an einem gewöhnlichen Arbeitstag. Es ist das erste Mal in China, dass wir so etwas wie Individualtouristen sehen, denn der chinesische Tourismus läuft normalerweise in Massen ab. Die Sehenswürdigkeiten im Reich der Mitte sind nach A's klassifiziert, je mehr A's ein Ort vorweisen kann, desto teurer ist der Eintritt und desto mehr Besucher hat es. Der Kanas See ist ein AAAAA, also ein super Highlight und auf dem Hinweg über die Hauptstrasse haben uns vollgestopfte Cars im Minutentakt überholt, die die Menschenmassen schön kanalisiert zum See hoch- und nach dem Erinnerungsfoto wieder zurück karren. Doch diese Chinesen hier laufen ein dreitägiges Trekking und heissen uns mit einer Begeisterung willkommen, die ansteckt. Daumen hoch – uns geht's wieder gut und so werden die 800km bis an die kasachische Grenze zum Kinderspiel.
Es ist zehn Uhr abends und wir sind bettfertig. Da klopft es an der Tür. Nicht unerwartet, denn eine Übernachtung in einem billigen Hotel ist in China immer Glückssache und von einigen Faktoren abhängig. 1. Der Besitzer darf die Vorschriften nicht kennen/zu ernst nehmen oder er muss gute Beziehungen zur Polizei haben, denn Ausländer dürfen eigentlich nur in teureren Hotels mit Scanner für die Registrierung übernachten, 2. Niemand verpfeift den Besitzer oder die Ausländer, 3. Die Polizei ist zu faul, um sich um solche Kleinigkeiten zu kümmern. Wie es scheint, haben wir wieder einmal Pech. Zwei Zivilpersonen mit rotem Armband stehen vor der Tür und deuten uns unmissverständlich, dass wir ihnen folgen sollen. Da die beiden weder Ausweis noch Uniform tragen, knallen wir die Tür zu und setzen uns zur Recherche an den Computer. Rotes Armband – was zur Hölle soll denn das? Schon bald werden wir fündig. Da steht schwarz auf weiss: „...Arbeiter und Rentner wurden mobilisiert, um Ordnung und Sicherheit zu garantieren. Sie tragen ein rotes Armband mit den Charakteren „Sicherheits Patrouille“. Soweit so gut. Kein Problem. Bei uns gibt's auch Securitas. Doch in China wurden schon einmal rote Armbänder ausgehändigt. Während der Kulturrevolution von Mao wurden Millionen von Menschen durch diese „roten Garden“ öffentlich gefoltert oder auf Nimmerwiedersehen abgeholt. Leute, die diese Zeit erlebt haben, leben noch heute in China, erinnern sich als Opfer daran oder waren vielleicht selbst bei den roten Garden und arbeiten jetzt wieder als freiwillige Sicherheitspolizisten ...uhhhhh...das wäre, wie Securitas mit Hakenkreuzbinden. Bald klopft es natürlich erneut an unserer Tür. Wir reagieren nicht. Hotel wechseln werden wir um elf Uhr Abends ganz bestimmt nicht mehr. Das Klopfen geht eine halbe Stunde lang weiter, wir haben die Schnauze voll, hämmern zurück und schreien auf English: „Fahrt zur Hölle, wir schlafen jetzt, kommt morgen wieder.“ Arroganz hilft bei den Chinesen oft, das haben wir in der Vergangenheit gelernt. Eine Zeit lang wird noch laut vor unserer Türe diskutiert, dann wird es still.
Am übernächsten Morgen stehen wir an der chinesisch-kasachischen Grenze. Doch sie ist geschlossen. Geschlossen für die nächsten drei Tage. Und unser Chinavisa läuft heute aus. „No problem“, meint der Grenzbeamte, „come back Sunday“. Also eine erneute Hotelsuche. In jedem billigeren Hotel hören wir „mejo“, das chinesische Wort für „hat es nicht, geht nicht, wollen wir nicht, keine Lust“, welches wir leider viel zu oft hören. Wir machen uns auf den Weg zum Polizeiposten. Sollen die uns helfen, eine Unterkunft für 80 Yuan zu finden. Erstaunlicherweise hat das schon früher geklappt und es geht auch dieses Mal. Wir folgen dem Streifenwagen zu einem Hotel und checken ein. Die Besitzerin winkt bloss ab, als wir ihr den Pass zur Registrierung überlassen wollen. Na denn – auf drei weitere Tage in China. Eigentlich hatten wir damit bereits abgeschlossen und keine Lust mehr, uns länger darauf einzulassen. Und als würde unser Gemütszustand das Unglück anziehen, erleben wir noch einmal seine korrupteste und ungerechteste Seite. Am nächsten Abend verlangt die Besitzerin nämlich plötzlich den doppelten Preis fürs Zimmer und droht uns mit dem Rauswurf. Leider haben wir Kaution zahlen müssen und das Geld wäre damit weg. Wir gehen schnurstracks zur Polizei und bitten um Hilfe. Das massive Polizeiaufgebot, das uns begleitet, beeindruckt die Frau allerdings kein bisschen. Ungewöhnlich, denn sonst haben die Chinesen vor der Polizei oft Angst. Erst als wir den Schlafsack vor der Rezeption ausrollen und uns für die Nacht einzurichten beginnen, kommt die Sache ins Rollen. Die Sicherheitspolizei betritt das Parkett und endlich haben wir einen englisch sprechenden Beamten vor uns und können unsere Sache auch ohne google.translate vertreten. Um Mitternacht, nach etwa drei Stunden massiver verbaler Attacken, ist es uns erlaubt, das Zimmer wieder zu beziehen. Unsere fehlende Registrierung wird trotz mehrmaligem Hinweis unter den Tisch gewischt. Diese Frau muss mächtige Freunde haben.
Vier Tage später erreichen wir zusammen mit dem ersten Schnee Almaty. Hier ist ein grösserer Veloservice und vor allem das Einholen der Visa für Usbekistan, Turkmenistan und den Iran fällig. Obwohl wir Zentralasien schon von früheren Reisen kennen, möchten wir doch über den Landweg zurück nach Dubai radeln. Als wir aber auf der iranischen Botschaft vorsprechen, stellt sich heraus, dass wir trotz gegenteiliger Information auf dem Internet eine Referenznummer brauchen, die wir allerdings erst nach zehn Tagen erhalten würden. Zwei weitere Wochen würde es dauern, die restlichen Visa einzuholen. Als wir die Botschaft verlassen, kippt ein Schalter. Fast ein Jahr haben wir im asiatischen Raum verbracht. Kaum ein Kontinent ist landschaftlich und kulturell so vielfältig. Wir haben es genossen, doch jetzt scheint es Zeit für einen Wechsel zu sein. Kurzerhand verschreiben wir uns selbst ein „Daumen hoch“, werfen alle Pläne über den Haufen, buchen einen Flug und setzen uns ab nach... Wir freuen uns darauf!
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