Immer, wenn man mit dem Fahrrad in eine einsame Landschaft hineinfaehrt, passiert es. Der Radler schrumpft, der Himmel oeffnet sich. Am Anfang ist die Ungewissheit, der Respekt vor der Einsamkeit. Sie frisst sich am Mut satt, schuert die Orientierungslosigkeit. Manchmal ist es das fehlende Wasser, der Wind, eine lebensfeindliche Einoede. Hier ist es die Kaelte, Radspuren, die im Schnee verlaufen. Man denkt sofort ans Umkehren. Und dann radelt man los. Von nun an schafft man alles.
Die Route, welche wir von Kanad empfohlen bekommen haben, hat sich als kleines Radlerjuwel entpuppt. Eindrueckliche Flusstaeler, Berge und Steppe - ein Genuss. Doch nun stehen wir zuoberst auf diesem Pass, den wir die letzten Kilometer hochgeschoben haben und sehen, wie die Piste zur Spur vekuemmert. Der Wind hat den Schnee zu Haufen zusammengeblasen, kleine Wellen im braunen Sand. Ein weisses Meer liegt vor uns, eine riesige Flaeche. Ueber dem Horizont flimmert eine Kaeltefatamorgana, taeuscht Huegel vor, wo es keine mehr hat. Wir sitzen hin, wissen nicht, ob wir dieses Mal gegen die Weite ankommen werden. Die Temperaturen haben uns geschwaecht, wir haben es gespuert in den letzten Tagen. Am Morgen sind wir immer laenger im Schlafsack liegen geblieben, der Druck, am Abend einen warmen Uebernachtungsplatz zu finden, ist immer groesser geworden. Vielleicht geht es einfach nicht mehr, jetzt, da auch noch die Strasse schlechter wird, wenn wir statt der zwei, vielleicht drei Tage fuer die naechsten hundert Kilometer brauchen. Wir essen Schokolade, hoffen, dass auch dieses Mal die Mutlosigkeit vorbei geht. Ein Nomade treibt seine Herde auf uns zu. Erstaunlich, wo ueberall Menschen leben. Wir schenken ihm den Rest der Tafel. Er kaut, saugt die Suesse auf. Nach Naranbulag wollen wir. Er nickt. Wir fragen ihn nach Jurten auf der Strecke. Es hat welche. Wir beginnen zu schieben.
Ulangoom trennen nur wenige Kilometer von der russischen Grenze. Es hat mehr Schnee, aber die Strasse nach Osten wird staerker befahren. Eine eisglatte Piste, ausgezeichnetes Terrain fuer unsere Spikes. An Weihnachten werden wir in Murun sein. Bestimmt.
Morgenerwachen in einer Jurte. Die Oeffnung im Dach wird heller. Der Mann steht auf, macht Feuer. Sonst gehoert der Herd der Frau, aber am Morgen ist es meistens der Mann, der das Feuer wieder anfacht. Es knistert, gelbes Licht flackert ueber das Jurtengeruest, versickert im Filz, beginnt zu waermen. Eine Stunde vergeht. Dann steht die Frau auf, legt Holz nach, kocht Tee. Gesalzenen Milchtee. Das Eis in der Pfanne zischt, zersplittert unter der Hitze, schmilzt. Zum Fruehstueck gibt es kaltes Fleisch. Laengst essen wir alles. Ohne diese fettigen Fleischstuecke wuerden wir schon lange nicht mehr Radeln. Es ist der dritte Advent. An Weihnachten werden wir in Murun sein. Bestimmt.
Wir fahren auf eine Anhoehe. Das Abendlicht wirft Schatten, die nach unseren Raedern greifen. Wir muessen bis Harbom kommen, vorher hat es keine Jurten. Hinter uns versinkt die Sonne. Der Himmel brennt, die Landschaft glueht. Eine truegerische Waerme. Wenn die Sonne untergeht, wird es sofort eisig kalt. Nicht zurueckschauen. Ablenken. Hundert Mal das Kinderlied "lueget nid ume..." im Kopf singen. Hinter uns versinkt die Sonne.
Wir erreichen Harbom im Dunkeln. Kein Dorf, eine Jurte. Es ist niemand zu Hause. Genau das ist das Problem. Man weiss vielleicht, dass es Haeuser oder Jurten hat, aber sicher ist der Uebernachtungsplatz nie. Es braucht jetzt so wenig, um aus dem Gleichgewicht zu kommen. Ein Platten zur falschen Zeit, ein Wettersturz, eine Unachtsamkeit in der Streckenplanung. Es ist zu spaet, um ein Zelt aufzustellen und unsere Ausruestung wird in dieser Nacht nicht genuegen. Also schauen, ob wir in die Jurte reinkommen. Sie ist nicht sicher abgeschlossen. Die Metallplatte laesst sich zur Seite schieben. Schlafen koennen wir kaum in dieser Nacht, der Puls rast bei jedem Geraeusch. Was passiert, wenn der Besitzer heimkommt? Wir werden es nie wissen, wir bleiben allein. Am Morgen legen wir die doppelte Geldsumme hin, welche wir normalerweise bezahlen. Eine dunkle Nacht. An Weihnachten werden wir in Murun sein. Bestimmt.
Manchmal vergeht der Zauber eines Landes, die Umgebung wird oede, weil man sich an sie gewoehnt. Die Leute werden alltaeglich, das Radeln muehsam. Hier nicht. Das Licht ist immer noch weich, die Landschaft still, die Leute kaum fassbar. Vielleicht sollten wir aufhoeren, unsere Erlebnisse auf dieser Strecke zu beschreiben. Vielleicht kann man die Haerte und die Schoenheit, die Spannweite, in welcher wir in diesen Tagen unterwegs sind, nicht ausdruecken.
Es ist der vierundzwanzigste Dezember, als wir in Murun ankommen. Frohe Weihnachten.
Wir haben es niemandem erzaehlt. Wen haetten wir auch damit aengstigen wollen. Alles war viel zu ungewiss. Und doch, wer unsere Internetseite genau studiert hat, der haette es vielleicht gemerkt. In der Linkliste. Gesammelte Seiten ueber Kaelte, mit dem Rad im Winter ueber den zugefrorenen Baikalsee. Nein, nicht dass wir noch einmal nach Russland moechten. Aber hier im Norden von Murun, an der Grenze zu Sibirien gibt es auch einen See. Den Khovsgol Nuur. Er ist glasklar, der kleinere Bruder des Baikal, und im Winter wird er von Autos und Lastwagen befahren. Dafuer sind wir in den letzten Monaten durch die Kaelte geradelt. Eigentlich hatten wir immer dieses Ziel. Es ist noch etwas frueh, jetzt im Januar. Aber die Leute meinen, dass das Eis einen halben Meter dick sei. Genug fuer Motorraeder und leichtere Fahrzeuge. Genug fuer unsere Velos.
Eis ist nicht still, obwohl es die Tiefe in sich traegt, das Blau des Himmels widerspiegelt. Eis lebt, es kracht, es reisst, es droehnt aus der Tiefe. Unheimlich. Wie soll man ihm vertrauen? Man fuehlt sich in die Leere gestossen. Am Ufer sieht man noch Steine und Seetang auf dem Grund, spaeter nur noch eine bodenlose Tiefe. Ich habe mir oft vorzustellen versucht, wie es waere mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug zu springen. Das Gefuehl des freien Falls muss das erste Mal umwerfend sein. Ich habe Hoehenangst und bin nie gesprungen. Auch jetzt habe ich Hoehenangst. Das Adrenalin fliesst. Schrecklich schoen. Gefrorenes Wasser hat tausend Formen, nie ist es gleich: Weiss gerillt, milchig gewellt, mit roher Gewalt zerborsten, spiegelblank. Manchmal muessen wir grosse Verwerfungen ueberqueren, Presseis, das stoehnt und aechzt. Dann wieder radeln wir auf Kristallglas. Auch die Farbe aendert, das Licht.
Am dritten Tag fahren wir an eine offene Spalte. Das Eis ist duenn, ein Fluss fliesst von den Bergen in den See. Von dieser Gefahrenstelle hat uns niemand erzaehlt. Was sollen wir machen? Die Zeit verrinnt, wir muessen weiter. Beim Ueberqueren bricht ein Fuss und ein Hinterrad ein. Alarmstimmung. Sollen wir ans Ufer schieben und Feuer machen? Das Dorf am Nordende liegt nur noch zehn Kilometer entfernt. Hinter uns versinkt die Sonne. Der Himmel brennt. Eis und Feuer. Welche Spannweite an Gefuehlen ertragen wir noch?
Unser Visa laeuft in einer Woche aus. Die Reise geht weiter. Nach drei Monaten in der Kaelte haben wir uns den Flug von Murun in die Hauptstadt Ulaanbaatar geschenkt. Damit sparen wir uns dreissig Stunden in einem russischen Bus. Dreissig Stunden in einer russischen Tiefkuehltruhe. Wir hatten noch nie einen solchen Flug.
© Alle Inhalte dieser Website gehören Brigitte & Ivo Jost, Hauptstrasse 82, 3854 Oberried, Schweiz
Für die Inhalte von verlinkten Seiten sind ausschliesslich deren Betreiber verantwortlich.