Die Welt ist furchtbar komplex. Pro Tag treffen wir etwa 20'000 Entscheidungen, hat der Hirnforscher Ernst Pöppel mal ausgerechnet. Zugegeben, die meisten davon sind reine Routine. Genauer gesagt etwa 90 Prozent davon. Würden wir bei jeder Entscheidung erst einmal Argumente sammeln, gegeneinander abwägen, die Folgen abschätzen und bis zur letzten Konsequenz durchdenken, wären wir mit der Entscheidung des Kaufs einer Zahnpasta ein paar Tage beschäftigt. Und das geht natürlich nicht.
Beim Reisen ist das anders. Dort gerät nämlich die Routine aus den Fugen. Die Zahnpasta, für die man sich zu Hause normalerweise „entscheidet“, gibt es gar nicht. Zusammen mit einer einsamen Fahrradstrecke kann es dann schon mal vorkommen, dass man sich damit ein paar Tage aufhält. Nicht auszudenken, wie es dann mit den Nicht- Routineentscheiden aussieht. Der Entscheidung zum Beispiel, wie unsere Reise nach Dubai weitergehen soll. Der nahe Osten ist für Radler zur Zeit eine Sackgasse. Früher oder später müssen wir in einen Flieger steigen. Und damit haben wir praktisch eine unerschöpfliche Auswahl. Die mehrwöchige Superentscheidung sozusagen. Laut weiteren Studien, müssten wir nun sofort auf eine erfolgsversprechende Dreipunkte-Strategie umsteigen, denn zu langes Grübeln macht unglücklich. Dabei gibt es drei Möglichkeiten, um sich schnell zu entscheiden: 1. ein Zeitlimit setzen, 2. die Entscheidung delegieren, 3. eine Auszeit von der Entscheidung nehmen. Ha, so leicht geht das! Eine Auszeit nehmen. Das tönt doch gut.
Eine Woche lang treiben wir uns in den Shopping Malls von Dubai herum, schauen uns Filme in 3D an, staunen über die Indoor Skianlage in der Wüste und feiern mit Millionen von Menschen beim grössten Gebäude der Welt, dem Burj Khalifa unter einem Megafeuerwerk das neue Jahr. Eine erstaunliche Welt! Fast hätten wir mit unserer Auszeit Erfolg gehabt, und wir hätten unsere Entscheidung, wie es weiter gehen soll, für immer vergessen. Aber dann machen uns die hohen Lebenskosten der Emirate doch einen Strich durch die Rechnung. Nach einer Woche bleibt uns nur, Punkt eins in Angriff zu nehmen (das Delegieren ist zu zweit so ne Sache), und der ganzen Entscheidungsfrage in Kürze ein Ende zu bereiten. Frei nach dem Motto eines Radlerpaares, welches zehn Jahre um die Welt geradelt ist und am Ende gesagt hat „ach wisst ihr, es kommt gar nicht so drauf an, wo man fährt“, entscheiden wir uns für Sibirien.
Ein Russlandvisa kriegt man nur im Heimatland. Und obwohl wir unsere Pässe per DHL Dokumentenpost problemlos nach Hause schicken und dann das Visa durch eine Visaagentur organisieren lassen könnten, rät uns der Schweizer Botschafter in Dubai davon ab, diese in den Emiraten aus der Hand zu geben. Wir hätten unsere Entscheidung schon fast über Bord geworfen, uns eine weitere Auszeit im Oman gegönnt und damit gegen eine der grundlegendsten Erkenntnisse in der Entscheidungsforschung verstossen (wer Gelegenheit hat seine Entscheidungen zu überwerfen, braucht 50 Prozent länger, um sich zu entscheiden), als eine erfreuliche Nachricht des Schweizer Konsuls aus Kathmandu in unseren Maileingang flattert: Es sei durchaus denkbar, sich in Nepal für eine gewisse Zeit ohne Pass aufzuhalten. Natürlich erst nach der Einreise und auf unser eigenes Risiko. Aber eben „durchaus denkbar...“. Und so sitzen wir zwölf Stunden später im Flieger der Air Arabia mit Ziel Kathmandu. Wer kann da noch an der Durchschlagskraft der Dreipunkte-Strategie zweifeln.
Von Kathmandu aus spedieren wir unsere Pässe nach Hause und lassen uns einen Teil unserer Winterausrüstung zuschicken. Ohne zu zögern haben wir der Paketliste noch zwei Tuben Elmex Zahnpasta hinzugefügt, denn wer quält sich schon gerne unnötig mit Routineentscheidungen. Punkt zwei der Dreipunkte-Strategie hilft uns dann auch umgehend herauszufinden, was wir machen sollen, während wir auf unsere Sachen aus der Schweiz warten. Zwei Freunde von uns haben nämlich vor kurzem Nepal mit ihren Fahrrädern bereist und so können wir die Entscheidung, was man hier am besten unternimmt getrost delegieren.
Die beiden schwärmen begeistert von der Annapurna Runde. Darum füllen wir zwei Rucksäcke und schnappen uns unsere Velos, um es ihnen gleichzutun. Wir erleben zwanzig Tage in einer umwerfenden Bergwelt: Kaum Touristen um diese Jahreszeit, gute Fernsicht, ein Hauch Winterzauber in den Tälern und der gefrorene Tilicho See, der uns so richtig auf das kommende Sibirienabenteuer einstimmt. Doch am Ende sind wir fix und fertig. Und so fällt es uns auch nicht weiter schwer, unser Vertrauen noch einmal in Punkt drei der Dreipunkte-Strategie zu setzen, als die nächsten Entscheidungen auf uns einstürzen. Diesmal dauert die Auszeit zwei Wochen.
Leider verschiebt sich bei der Vorbereitung einer Winterfahrradtour durch Sibirien das Verhältnis von 90 Prozent Routineentscheidungen und 10 Prozent wichtigen Entscheidungen zu Ungunsten der Routineentscheidungen und wir verbringen trotz Dreipunkte-Strategie ein paar Tage mit Grübeln. Zum Glück finden wir aber im Päckchen, welches aus der Schweiz bei uns angekommen ist, nicht nur unsere halbe Winterausrüstung und zwei Tuben Elmex Zahnpasta, sondern auch Weihnachtsplätzchen, Lebkuchen, batteriebetriebene Rechaudkerzen und ein Kilo Schokolade, was dem Unglücklichsein aus dem Entscheidungsmissverhältnis zu unserem Erstaunen letztendlich den Garaus macht. Und so müssen wir uns eingestehen, dass wir wohl in Zukunft nicht ausschliesslich auf den Erfolg der Dreipunkte-Strategie zählen dürfen, sondern dass bei der Entscheidungsfindung auch noch andere Faktoren eine Rolle spielen können. Ach, die Welt ist furchtbar komplex.
Quelle zur Dreipunkte-Strategie: Decision Quicksand, How Trivial Choices Suck Us In (Aner Sela, Jonah Berger 2012)
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