Gu Genju sieht ihn vor sich, den Film. „Aoluguya – die letzten Rentierjäger...“. Vier Millionen Euro Budget. Da sollte schon was drin sein. Das Dorf ist schon lange fertig. „Scandinavian style“, so wollten es die Macher. Etwas Aussergewöhnliches für aussergewöhnliche Leute. Sein Auftritt: Leichte Rücklage, tapsige Schritte, abgewinkelte Hände. Den Jack Sparrow Schritt hat er drauf, da kann nichts mehr schief gehen. Die halblangen Haare sind stramm zurückgekämmt, Bärenkralle und Wildlederjacke, Indianerblick. Er war noch nie in Skandinavien, aber die asymmetrischen Giebeldächer gefallen ihm.
Kurz nachdem die Häuser fertig waren, wurden die Rentiere hergeschafft, zweihundert Stück. Doch sie starben alle, schon einige Monate nach ihrer Ankunft. Das Klima und die Umgebung hatten wohl nicht gepasst. Rentiere kann man nicht in Käfigen halten. Anstelle der Rentiere warten nun im Wald ausserhalb des Dorfes ein Dutzend Rehe auf ihren Einsatz. Die meisten würden es eh nicht merken – und wenn schon. Vor einem der Häuser zündet eine der „Natives“ ein Rauchfeuer an. Rentierfleisch baumelt von einem Holzgestell. Sie setzt sich daneben, beginnt mit dem Walken eines Fells. Gu Genju registriert ein leises Zischen. Es muss vom Eingang her kommen, von der Schranke, dort wo die dramatische Rentierskulptur steht, gleich neben dem Wegweiser „to the primitive tribe“. Das Zischen eines Airbrushs. Die Skulptur erhält ihren letzten Schliff. Immer geschieht alles auf den letzten Drücker. Wenigstens er ist bereit. Leichte Rückenlage, tapsige Schritte, perfektes Outfit. So was kommt an. Eine Gruppe Chinesen wuselt vorbei. Eine Kamera wird auf ein Stativ gehisst. Und dann – Action! Ein 4x4 Jeep rauscht mitten durchs Bild, bleibt stehen, spuckt eine weitere Ladung chinesischer Touristen aus. Gu Genju stolpert, doch die Kameras halten drauf. Heute ist nicht sein Tag, er wird wohl lieber nach Hause gehen und noch ein Bier zischen. Die Chinesen wuseln zu den Informationstafeln rüber. Dort ist alles aufgeschrieben. Alles über sein Leben. Sein Leben, wie es vorher war. Das Züchten der Rentiere, das Jagen der Bären in den Wäldern des Hinggan Gebirges. Elf Jahre ist es nun her, dass er sein Gewehr der chinesischen Regierung abgeben musste. Im Zuge der Umsiedlung. Es war ein symbolischer Akt. Das Ende einer Ära.
Das erste Mal haben wir Gu Genju gestern getroffen. Es war Mittag, die Sonne brannte den Staub in die kahlen Strassen von Aoluguya, einer Reihenhaussiedlung ausserhalb von Genhe, im äussersten Nordosten Chinas. Wir hatten nichts als einen Namen. Und die Bilder. Schlitten im stiebenden Schnee, das Wachstuchzelt mit dem verrauchten Kaminrohr, die Rentiere in der verschneiten Taiga. Bilder der evenischen Rentiernomaden, denen wir im Winter in Sibirien begegnet sind und die uns nun helfen sollen, auch hier in China mit den verbleibenden Rentierzüchtern in Kontakt zu kommen. Wir wussten, dass das schwierig wird. Die Sprachbarriere, die Tatsache, dass die sechzig Evenki Familien aus dem Hinggan Gebirge zusammen mit 700'000 anderen Nomaden in China in den letzten elf Jahren zwangsangesiedelt wurden und es eigentlich faktisch keine nomadisierenden chinesischen Evenki mehr gibt. Doch wir haben gelesen, dass einige nach dem Umsiedlungsdesaster zurück in den Wald gezogen sind, zusammen mit den verbleibenden Rentieren. Vier nomadisierende Camps soll es im chinesisch- russischen Grenzland wieder geben. Diese wollen wir finden.
Unsere erste Anlaufstelle war Aoluguya. Das Retortendorf, welches die chinesische Regierung „zum Schutz des Waldes, zur Modernisierung und der Entwicklungshilfe“ zweihundert Kilometer südlich des angestammten Lebensraumes aus dem Boden gestampft hatte. Für vier Millionen Euro. Gu Genju war der erste, welcher uns über den Weg torkelte, schon etwas angeheitert, was seinem Filmstar Auftritt aber keinen Abbruch tat. Als er hierher kam, war er zuständig für die Pflege der Rentiere im Touristenpark. Das ist dann auch das erste, was er uns zeigt, doch viel ist nicht mehr davon übrig. Ein paar Rehe dümpeln in einem Gitterkäfig dahin, ein einzelnes Rentier liegt in einem Verschlag, ein angebundenes Kamel. Das Konzept der Rentierumsiedlung ist nach hinten losgegangen. Und das der Umsiedlung der Menschen? Die Antwort liegt wohl im Blickpunkt. Für die chinesische Regierung sollte die Rechnung aufgegangen sein.
Die Evenki sind nun kontrollierbar. Ihr Leben strahlt Moderne aus, die meisten sind in der Gesellschaft assimiliert. Gu Genju äussert sich nur vage dazu: „Jagen ist unser wahres Leben“, meint er, „wir konnten frei jagen und mit der Zucht der Rentiere Geld verdienen. Heute haben wir Waschmaschinen und Fernseher, aber kein Gewehr. Wir können nicht mehr jagen, haben keine Rentiere mehr. Das Leben ist komplizierter geworden.“ Wir zeigen Gu Genju unsere Fotos von Russland, fragen nach Malya, der Matriarchin einer Evenkenfamilie, welche in einem Artikel auf dem Internet erwähnt wurde. Gu Genju führt uns zu einem Haus. Dort wohnt der Sohn von Malya, He Xie. Er zeigt uns seine alten Familienalben. Er als Kind im Rentierlager, dann zusammen mit seiner Mutter vor einem Zelt. Da er uns nur Bilder von ihr zeigt, nehmen wir an, dass Malya nicht mehr lebt. Später werden Bierdosen rumgereicht, es wird getrunken. He Xie spielt auf seiner Mundharmonika, herzzerreissend, sehnsüchtig. Am nächsten Morgen wird er zusammen mit einem Tierarzt und einem Freund 150 Kilometer in den Norden fahren. Zu seinen Rentieren. Er hat uns versprochen, dass wir mitdürfen.
He Xies Freund hat einen rassigen Fahrstil. Mit 120 Sachen brettern wir auf der schmalen Asphaltstrasse Richtung Norden. Bremsenschwärme krachen gegen das Auto, hinterlassen schmierige Schlieren auf der Windschutzscheibe. He Xies Freund putzt sie gleichgültig mit den Scheibenwischern weg. Er ist einer derjenigen, die den Sprung zwischen dem Leben im Wald und Aoluguya geschafft haben. Seine Frau führt einen Souvenirladen, in dem sie geschnitzte Rentier Anhänger, Felle aus Pelzfarmen und getrocknete Hornchips verkauft. Die Evenken im Hinggan Gebirge haben seit jeher nicht das Fleisch der Rentiere genutzt. Anders als die Rentierzüchter in Skandinavien, Alaska oder Kanada haben sie kleine Herden gehalten, sahen sich in erster Linie als Jäger und benutzten die Rens als Packtiere. Dazu haben sie die Stuten gemolken und Handel mit Geweihprodukten getrieben.
Wenn sich die Geweihe im Frühsommer noch in der Wachstumsphase befinden, weich und mit Bast überzogen sind, werden sie abgesägt. Das natürliche Abwerfen wird also quasi vorgezogen. Die Geweihe werden dann zu getrockneten Chips verarbeitet, ein traditionelles chinesisches Potenzmittel. Mit den Einnahmen aus dem Laden konnte sich die Familie von He Xies Freund über die Jahre ein Auto finanzieren. Erste Bedingung, um den Spagat zwischen der nördlich gelegenen Taiga, in der die Rentiere genügend Flechten zum Weiden finden, und der Aoluguya Ansiedlung zu schaffen. Doch das alleine reicht nicht, um das Umsiedlungstrauma erfolgreich zu bewältigen. Für viele in Aoluguya ist Alkohol der einzige Ausweg.
Nach drei Stunden Fahrt erreichen wir das erste Camp. Zwei Zelte mit Solarpannel und eine Rentierherde mit schätzungsweise achtzig Tieren. Diese werden von zwei Männern gepflegt, welche das ganze Jahr hier leben. Die Tiere sind um rauchende Feuer versammelt, suchen Schutz vor Bremsen und Mücken. Zuerst wird den jungen Rentieren Blut und Speichel abgenommen. „DNA Proben“, erklärt uns der Tierarzt, der etwas Englisch spricht. „Inzucht ist ein grosses Problem geworden in den immer kleineren Herden. Wir untersuchen die DNA um zu schauen, wie weit diese bereits fortgeschritten ist. Der Austausch von Zuchttieren muss vorangetrieben werden.“ Nachdem die Proben genommen wurden, streift He Xie einen Arbeitskittel über. Nun beginnt seine eigentliche Arbeit als Evenki – und die ist um diese Jahreszeit blutig. Ein Rentier wird gefangen, zwischen zwei Baumstämme getrieben, und dann geht alles ruckzuck. Zwei Sägezüge und das Geweih ist weg. He Xie ist ein Profi. Schnell bindet er die Arterien am Geweihstumpf ab. Das Rentier trottet zurück zur Herde, als sei nichts passiert, zurück bleiben die noch warmen, pelzigen Geweihe.
Wir haben die Szene gespannt mitverfolgt. Nun erklärt uns der Tierarzt: „He Xie schneidet die Geweihe einmal im Jahr. Dann bringt er sie zurück nach Aoluguya und dort holt sie dann jemand ab, um sie in der Fabrik zu verarbeiten. Die verpackten, getrockneten Chips kommen dann zurück ins Dorf, wo die Leute versuchen, sie in den Souvenirshops zu verkaufen. Leider behält auch der Staat eine Portion der Produkte für sich, um sie dann professionell in Beijing oder übers Internet zu vermarkten. Und jeder in Aoluguya bestimmt seinen eigenen Preis. Das macht den Verkauf schwierig.“ Mittlerweile hat auch He Xies Freund ein Rentier in der Zange. Er geht sauberer vor, bindet den Geweihbast ab, bevor er die Säge ansetzt. Vielleicht ist He Xie einfach noch mehr mit den Traditionen der Evenki aufgewachsen, denn auch dem Blut aus den wachsenden Rentiergeweihen wurde eine luststeigernde Wirkung zugeschrieben. Und so zapft er denn einem der Tiere auch einen halben Liter Blut ab, vermischt ihn mit Hochprozentigem und überreicht ihn stolz dem Tierarzt. Prost!
Später am Nachmittag werden zwei Rentiere auf einen Pickup geladen, um sie ins Camp von He Xies Freund zu bringen. Das Inzuchtproblem wird aktiv angegangen. Zwei Rentiere zu verladen ist Schwerstarbeit, denn Rentiere kann man nie vollständig zähmen. Trotz regelmässigem Kontakt zu den Menschen bleiben sie halbwild, und so kommt es nicht von ungefähr, dass sich die zwei auch halbwild benehmen. Eine geschlagene Stunde geht der Kampf, He Xie landet mehrmals auf dem Hintern und ist schon bald mit blauen Flecken übersät. Zum Glück hat er den beiden vorher die Geweihe abgesägt.
Das zweite Camp ist kleiner. Anstelle von Zelten gibt es hier eine feste Hütte. Überbleibsel der ersten chinesischen Ansiedlungsversuche. Vor der Hütte ist ein Hund angebunden. Er hat die Ausmasse eines Bären, zottig, riesig und scharf. Ein weiterer Beweis, wie souverän He Xies Freund den chinesischen Einschränkungen begegnet. Zur Verteidigung eines Bärenangriffs auf die Herde wird dieser Hund mindestens so wirksam sein, wie ein Gewehr. Das Camp von He Xies Freund betreut ein junger, taubstummer Evenke. Er hat einen guten Draht zu den Tieren, uns gefällt, wie er mit ihnen umgeht. Die zwei wilden Teufel vom Pickup folgen ihm wie Lämmchen. Bei ihm scheint die Beziehung, welche die Evenken zu ihren Tieren pflegten noch zu funktionieren.
Die Evenki haben sich nie als Besitzer der Rentiere angeschaut, sondern als deren Hüter. Sie haben ihnen Salz gegeben, haben sie vor den sibirischen Insektenplagen und ihren natürlichen Feinden beschützt und sind mit ihnen an Orte gezogen, wo sie genügend Flechten fanden. Im Gegenzug haben die Rens die Nähe zu den Menschen gesucht. Die Evenken, welche vor 300 Jahren aus dem Gebiet der Lena im heutigen Russland ins Hinggan Gebirge gezogen sind, haben nicht nur geografisch im Grenzland gelebt, sondern auch in der Beziehung zu ihren Tieren. Im Grenzland zwischen Domestikation und Wildheit, zwischen Natur und Zivilisation und immer mehr auch zwischen Tradition und Moderne. Mit der Umsiedlung ist diese Gratwanderung gestört worden, die Grenze auseinandergerissen - für die meisten unüberwindbar.
Es wird eine lange Rückfahrt nach Aoluguya. Das Zischen von He Xies Bierdosen vermischt sich mit dem Rauschen des Jeeps. Sein Freund fährt still und konzentriert. Draussen steigt Nebel aus den Sümpfen, eine schmale Mondsichel hängt über der Taiga. Sie ist zunehmend. Vielleicht schaffen auch andere Evenki den Sprung noch. Wenn kreative Jugendliche sich aus der Lethargie des Umsiedlungsschocks reissen und sich auf Identitätssuche mit den Rentierzüchtern in Russland, Europa und Nordamerika vernetzen würden. Doch es bleibt wenig Hoffnung, denn Unterstützung werden sie im prosperierenden China wohl keine finden. China hat andere Ziele.
Von Genhe aus radeln wir weiter Richtung Russland, dem chinesischen Grenzzaun entlang. Noch einzelne Tannen, dann haben wir die Taiga hinter uns gelassen und offenes Weideland erstreckt sich bis zum Horizont. Unsere Reise scheint sich immer mehr dem alten Motto zu nähern. Anstelle einer Fahrt „rundum“ sind wir nach einem Jahr Unterwegssein erneut in eine Odyssee durch Grenzland abgedriftet, mit Rissen und Sprüngen im Streckenverlauf, immer öfter den Rändern unserer Landkarten folgend, den politischen Linien, in denen sich faszinierende Kulturgeschichten abspielen und dramatische Landschaftswechsel vollziehen. Wir verlassen China bei Manzhouli. 500 Meter hochbefestigte Grenzführung trennen die moderne chinesische Stadt von einem kleinen sibirischen Weiler in Russland.
Von einer Stunde auf die andere haben wir Asien verlassen. Die Gesichter sind wieder europäisch, wir können uns mit den Leuten unterhalten, verstehen ihre Körpersprache, wissen, dass im Glas mit der Aufschrift „Tomatensauce“ auch wirklich Tomatensauce drin ist und nicht vielleicht Chilipaste. Und dann, drei Tage später, stehen wir wieder vor dem Stacheldrahtzaun. Die Asphaltstrasse endet auf einen Schlag, geht in einen typischen mongolischen Feldweg über. Anstelle von heller Haut, Kugelaugen und langer Nase hat unser Gegenüber wieder hohe Wangenknochen, Schlitzaugen und Plattnase. So krass haben wir einen Kulturwechsel auf dem Fahrrad noch selten erlebt. Es ist, als hätten wir das Flugzeug genommen.
© Alle Inhalte dieser Website gehören Brigitte & Ivo Jost, Hauptstrasse 82, 3854 Oberried, Schweiz
Für die Inhalte von verlinkten Seiten sind ausschliesslich deren Betreiber verantwortlich.